„Keine Stiefkinder der Reformation“

Interview: Der Vielfalt der Reformation Rechnung tragen

Prof. Dr. Andrea Strübind, Kirchengeschichtsprofessorin an der Universität in Oldenburg, wünscht sich eine stärkere Beteiligung der evangelischen Freikirchen an den Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum 2017. Im Interview mit Dr. Michael Gruber erklärt die Baptistenpastorin, warum sie die Konzentration der Jubiläumsplanungen auf Luther kritisiert, welchen Einfluss die Reformation auf das moderne Freiheitsverständnis hatte und weshalb der wohl „prominenteste Baptist“ ein Beispiel für gelungene Erinnerungskultur der Reformation ist. 

baptisten.de:2017 werden 500 Jahre Reformation groß gefeiert. Gewissermaßen als Countdown hat die Evangelische Kirche in Deutschland 2008 eine „Lutherdekade“ gestartet. Warum kritisieren Sie diese Konzentration in den Planungen zu den Feierlichkeiten?

Strübind: Bei den bisherigen Jubiläumsfeierlichkeiten stand Martin Luther traditionell im Zentrum. In den vergangenen Jahrhunderten ging es mal darum, Luther als Nationalhelden, mal als anti-katholischen Wegbereiter einer neuen Epoche darzustellen. Diese Jubiläen waren nicht frei von Polemik und dienten besonders der konfessionellen Selbstdarstellung. Diese Lutherzentriertheit finde ich aus verschiedenen Gründen nicht mehr angemessen. Es ist an der Zeit, ein Jubiläum zu feiern, das der Vielfalt der Reformation Rechnung trägt. Aus der Reformation sind neben dem Luthertum und den reformierten Kirchen viele weitere protestantische Kirchen entstanden, ob das nun das vielgestaltige Täufertum war oder die aus der englischen Reformation entstandenen Kirchen wie die Baptisten. Die vielen Zweige der Reformation sollten einbezogen werden, um dem Gesamtereignis gerecht zu werden. Feiert man das Reformationsjubiläum weiterhin als konfessionelles Identitätsfest, entspricht das auch nicht der neuen ökumenischen Wirklichkeit. Wir sind doch schon viele Schritte auf dem Weg zum Miteinander der Kirchen gegangen!

baptisten.de: Welches Selbstverständnis würden Sie sich in unserer Freikirche wünschen?

Strübind: Mir ist es ein großes Anliegen, dass wir Baptisten uns als reformatorische Kirche verstehen, die wir von unserem Ursprung her ganz klar sind. Ich erlebe aber eher eine relative Geschichtsvergessenheit in unseren Gemeinden, die ich bedauere. Dabei wurzeln unsere Glaubenslehre und -praxis in der reformatorischen Theologie: die Konzentration auf die Bibel, die Aufwertung der Mündigkeit der Christenmenschen, die Rechtfertigung allein durch Gnade und ein Kirchenverständnis, das von der Basis der versammelten Gemeinde her denkt. Diese reformatorische Theologie hat im 16. Jahrhundert eine Umbruchbewegung ausgelöst, die die ganze europäische Gesellschaft verändert hat.

baptisten.de: Mit der Frage, welche Folgen diese Veränderungen für uns bis heute haben, befasst sich ein Symposium im Oktober. Welcher Zusammenhang besteht denn zwischen Reformation und Moderne?

Strübind: In Bezug auf das Reformationsjubiläum wird immer wieder behauptet, dass sich Errungenschaften der modernen Gesellschaft wie Demokratie, Sozialgesetzgebung und Freiheitsrechte auf die Reformation zurückführen lassen. Das muss aber differenzierter betrachtet werden. Es besteht nicht pauschal ein unmittelbarer Zusammenhang. Vielmehr setzten sich bestimmte Strömungen der Reformation dezidiert für Glaubens- und Gewissensfreiheit und basisdemokratische Strukturen ein. Eine der Wurzeln des modernen Freiheitsverständnisses ging dabei – vor allem in Nordamerika – von baptistischen Theologen wie Roger Williams aus. Sie bewirkten, dass zum ersten Mal die Glaubens- und Gewissensfreiheit in die damaligen Siedlerverfassungen z.B. in Rhode Island aufgenommen wurde, und sie befürworteten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen religiös begründeter Verfolgung die Trennung von Staat und Kirche. Am Ende wurde Glaubens- und Gewissensfreiheit als Grundrecht für alle deklariert. Diesen Beitrag der Baptisten, der häufig übersehen wird, kann man in den Verfassungen der einzelnen Kolonien und später in der Verfassung der Vereinigten Staaten nachverfolgen. Aber auch in Texten des reformatorischen Täufertums findet sich bereits sehr häufig das Plädoyer für Glaubens- und Gewissensfreiheit.

baptisten.de:Hierzulande war es einer der Gründerväter des deutschen Baptismus, Julius Köbner, der 1848 „religiöse Freiheit in völlig gleichem Maße für Alle“ forderte, „seien sie Christen, Juden, Muhamedaner oder was sonst.“

Strübind: Köbners „Manifest des freien Urchristenthums“ ist eng verknüpft mit der Revolution von 1848, die für Baptisten die große Hoffnung enthielt, dass nun die Religionsfreiheit auch für andere Religionsgemeinschaften möglich sein würde. Wenn man sich die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts anschaut, ist das Manifest tatsächlich einzigartig im Blick auf das Plädoyer für Religionsfreiheit über die christlichen Kirchen hinaus. Es ist in einer politisch sehr angespannten Situation ein ganz klares Plädoyer für Demokratie, die Abschaffung des Staatskirchenrechts und die Einführung der Religionsfreiheit als Grundrecht. Das ist eine Stimme, die es damals in Deutschland von staatskirchlicher Seite nicht gegeben hat und die schrittweise zur Akzeptanz eines religiösen und kirchlichen Pluralismus in Deutschland beitrug.

baptisten.de: Welche Stimme sollte heute von den Baptisten und den anderen evangelischen Freikirchen zum Reformationsjubiläum ausgehen?

Strübind: Sie sollten sich intensiv an den Vorbereitungen zum großen Jubiläum beteiligen – und das auch mit einem gewissen Selbstvertrauen! Sie sind nicht die Randsiedler, Außenseiter oder Stiefkinder der Reformation. Sie sind Teil der Reformation, und bestimmte Errungenschaften aus ihrer Tradition dürfen sie zum Jubiläum daher auch besonders zum Leuchten bringen. Deshalb konzipiere ich zusammen mit Carsten Hokema eine Ausstellung, die Gemeinden buchen können, um auf Ortsebene einen Beitrag zum Jubiläum leisten zu können.

baptisten.de: Und sicher wird die Ausstellung auch für uns Baptisten selbst aufschlussreich sein. Wenn es soweit ist, werden wir über diesen Beitrag zur Erinnerungskultur berichten. Apropos: Warum ist Martin Luther King für Sie eigentlich ein Beispiel für gelungene Erinnerungskultur der Reformation?

Strübind: Er hieß bei seiner Geburt Michael. Sein Vater nahm 1934 am Baptistischen Weltkongress in Berlin teil und hatte Gelegenheit, die Lutherstätten zu besuchen. Er war so beeindruckt von der Wirkmächtigkeit des Reformators, dass er sich selbst und seinen sechsjährigen Sohn in Martin Luther umbenannte. Ich finde es bemerkenswert, dass der – man könnte sagen prominenteste Baptist, der Vorkämpfer für Freiheit, Antidiskriminierung und Bürgerrechte – sich mit dem großen Reformator in so enger Weise identifizierte.

„Das Erbe des Nonkonformismus“ – von der Reformation zur Moderne. Symposion der Gesellschaft für Freikirchliche Theologie und Publizistik (GFTP), 9.-11. Oktober 2015, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Weitere Informationen: www.gftp.de

Ein Artikel von Dr. Michael Gruber