Reformation > Education > Transformation

Ein persönlicher Bericht über eine außergewöhnliche Konsultation

Vom 19. bis 23. November fand die erste von zwei Konsultationen unter der Überschrift „Reformation > Education > Transformation“ statt. Im Rahmen des Themenjahres „Reformation und die Eine Welt“ und in Vorbereitung auf das Reformationsjubiläum in 2017 hatten die beiden Hauptveranstalter – das Evangelische Missionswerk und Brot für die Welt – nach Sao Leopoldo in Brasilen eingeladen. Dr. Oliver Pilnei, Leiter der Evangelisch-Freikirchlichen Akademie Elstal, war für den BEFG mit dabei. Hier sein persönlicher Bericht.

Auf dem schönen Campus der hiesigen lutherischen Fakultät, Faculdades EST, wurden ca. 100 Teilnehmer aus 40 Ländern, vier Kontinenten und zahllosen Konfessionen in die Thematik eingeführt. Dank einer Einladung seitens der Evangelischen Kirche in Deutschland – inklusive Kostenübernahme – durfte ich als baptistischer Vertreter dabei sein und diese besondere Tagung miterleben.

Das theologische Anliegen der Doppel-Konsultation ist grundlegend und zentral. Gefragt wurde, welche Prägekraft die Reformation (noch) in heutigen globalisierten Gesellschaften hat. Dabei wurden Themenkreise fokussiert, die zumindest im deutschen Kontext nicht Kernanliegen reformatorischer Theologie sind. Dazu gehörten „Öffentliche Theologie und das soziale Zeugnis der Kirchen“, „Leiden, Solidarität und die Theologie der Bevollmächtigung“ und „Bildung, Befreiung und Soziale Transformation“. In einführenden Impulsen eröffneten Referenten aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten Zugänge zu diesen Themen. Jeder Teilnehmer konnte sich in zwei Workshops einbringen.

Das bunte, vielseitige Erbe der Reformation

Für einen mitteleuropäischen Baptisten, der behütet in der Bundesrepublik aufwuchs, waren herausfordernde und Augen öffnende Themen dabei. Eines war zum Beispiel „Kirchen unterwegs zur Versöhnung und zur Heilung der Erinnerung nach Erfahrungen von Diktatur und Gewaltkonflikten“. Ein anderes hieß: „Eine Theologie der Ermächtigung im Licht von wirtschaftlicher Not, Ungleichheiten im Gesundheitssystem und dem Wohlstandsevangelium.“ Aber auch vertraute Themen waren zu finden: „Entwicklung von Führungskompetenz für Verantwortlichkeit in Kirche und Gesellschaft“. Gerahmt wurde die thematische Arbeit durch den Besuch von diakonischen Projekten und eines lutherischen Gottesdienstes, der aufgrund starker Einflüsse deutscher Auswanderer durchaus vertraute Züge hatte.

Die Begegnungen und Gespräche mit so vielen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen war eine große Bereicherung und Horizonterweiterung für jemanden, der im Studium vor allem von deutschsprachiger Theologie geprägt wurde. Diese Theologie mit ihren manchmal sehr spezifischen Fragestellungen ist global betrachtet nicht automatisch der maßgebliche Sachwalter des Evangeliums. Die Erben der Reformation sind viele. Sie sind bunt. Und sie haben andere Reformationsgeschichten zu erzählen und berichten teilweise von ganz anderen Herausforderungen als wir sie in Deutschland kennen.

Respekt vor den Herausforderungen anderer

Zu hören, wie das Evangelium in unterschiedlichen Kulturen entdeckt, entfaltet und aktualisiert wird, machte mich froh und dankbar – und mit zunehmender Dauer und Intensität der Gespräche auch stiller. Natürlich war man ständig mit anderen Teilnehmern im Gespräch, hörte auf ihre Geschichte und erzählte die eigene – was gelegentlich auch zu Ermüdungserscheinungen und Sprachausfällen führte. Aber mit zunehmendem Einblick in die unterschiedlichen Kontexte und die Herausforderungen, mit denen Viele vor Ort zu kämpfen haben, wuchs mein Respekt. Und ich erkannte neu, welch großer Wert im genauen Zu- und Hinhören liegt.

Zuhören und lernen, wie Professorin Esther Mombo von der St. Paul’s University in Kenia für Frauenrechte kämpft, für Teilhabe an Bildung und gegen Gewalt in Familie und Gesellschaft. Zuhören und lernen, dass Geschlechterfragen weitaus existentieller sein können als der ermüdende Streit um Gender-Gap, Sternchen oder Binnen-I. Zuhören und von einer Teilnehmerin aus Madagaskar lernen, dass 75 Prozent der hiesigen Bevölkerung unter der Armutsgrenze leben und durch Landwirtschaft erarbeiten, was sie zum täglichen Leben benötigen. Zuhören und lernen, dass tödliche Gewaltverbrechen an Frauen durch Männer in Brasilien und Guatemala rapide zunehmen. Zuhören und von einem syrischen Bruder, der jetzt im Libanon lebt, seine etwas andere Sicht auf den Konflikt im Nahen Osten kennenlernen...

Der gesellschaftsverändernden Kraft des Evangeliums Raum geben

Ich habe diese Zahlen und Hinweise nicht geprüft. Sie reichen mir als Indizien dafür, dass das Evangelium in Kontexten gelebt werden muss, die weitaus größere Zumutungen mit sich bringen, als ich sie tagein, tagaus erlebe. Das macht still, dankbar und auch demütig. Und gleichzeitig weckt es auch Leidenschaft und „Sanftwut“ (Wortschöpfung von EFG-Pastor i.R. Hans Stapperfenne). Und nicht zuletzt weckt es die Sehnsucht danach, dass das Evangelium von Jesus Christus seine Kraft erweist, Menschen verändert und befähigt, gesellschaftliche Verhältnisse verantwortungsvoll mit zu gestalten.

Vor dem großen Wort Transformation zucke ich immer noch ein wenig zurück. Ich habe weder vor noch auf der Konsultation verstanden, was es wirklich aussagen soll. Mir scheint, es stellt mehr ins Schaufenster, als es einlöst. Aber es ist ein Hinweis auf die anstehenden, immensen gesellschaftspolitischen Aufgaben, bei denen sich auch die Kirchen als aktive Mitspieler einbringen sollten.

Gerade deshalb darf das Reformationsjubiläum sich nicht auf Luther-Festspiele in Wittenberg und Berlin reduzieren. Der weltweite Kontext muss in den Blick kommen, kulturell, theologisch, personell. Und wir müssen – theologisch besonnen – den Mut fassen, der gesellschaftsverändernden Kraft des Evangeliums Raum zu geben und tatkräftig mit anzupacken. Mein Wunsch ist, dass diese Dynamik noch viel mehr Gemeinden in unserem Bund erfasst!

Ich bin gespannt auf die zweite Konsultation, die vom 18. bis 22. Mai 2016 in Kooperation mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg in den Franckeschen Stiftungen zu Halle stattfinden wird.

 

Materialempfehlungen zum Thema

Kalender für die Gemeindearbeit von Brot für die Welt: Reformation auf dem Weg. Menschen verändern die Eine Welt

Michael Biehl / Ulrich Dehn (Hg.), Reformationen. Momentaufnahmen aus einer globalen Bewegung, Hamburg 2015

Ein Artikel von Dr. Oliver Pilnei