Monatsandachten Archiv

Dezember 2021

„Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der Herr.“ (Sacharja 2,14)

Töchter reagieren nicht immer mit Jubel auf neue Mitbewohner. Anfang letzten Jahres kündigten wir unseren Töchtern an, dass jemand kommen will, um bei uns zu wohnen. Es ging um eine Austauschschülerin, die für einige Monate nach Berlin kommen sollte. (Am Ende kam sie doch nicht, weil die Corona-Pandemie ausbrach.) Beim Nachdenken über das Wort der Propheten Sacharja fielen mir die lebhaften Proteste wieder ein, die wir Eltern mit der Ankündigung auslösten. Wenn jemand bei uns einzieht, so die Bedenken unserer Töchter, dann wird ja alles ganz anders, dann ändert sich unser gewohntes Leben. Die Töchter brachten die Sache auf den Punkt.

Sacharja fordert die Tochter Zion auf, über seine Predigt zu jubeln. Die „Tochter Zion“ sind die Einwohner Jerusalems, sowohl Frauen als auch Männer. Frauen konnten wirkungsvoller jubeln, daher wird der weibliche Ausdruck „Tochter“ gebraucht, wenn es um eine jubelnde Menschenmenge geht. Aber es gab wohl selten Anlass zu Jubel im kleinen Jerusalem im kargen Bergland Judäas in den ersten Jahrzehnten nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft. Die Stadtmauer war eine Dauerbaustelle, und solange die Mauer nicht fertig war, konnte man eigentlich gar nicht von einer Stadt sprechen. Auch der Wiederaufbau des Tempels kam nicht voran, obwohl er doch der Mittelpunkt der Stadt und des ganzen Volkes sein sollte. Wenig von dem, was die Rückkehrer erhofft hatten, war eingetroffen.

Diesen Hörern predigte der Prophet von den Bildern eines neuen Jerusalem, die er geschaut hatte: Es wird eine Stadt ohne Mauern sein, denn Mauern könnten die vielen Menschen gar nicht fassen, die dort zusammenkommen. Gott selbst wird mitten unter den Menschen wohnen. Heiden werden kommen und Gott erkennen, auch sie werden zu seinem Volk. Ob die Jerusalemer wohl gejubelt haben, als die das hörten? Waren Sacharjas Visionen nicht allzu weit weg von dem, was sie sich vorstellen konnten, womit sie realistisch rechnen konnten? Hat nicht der Verlauf der Ereignisse Sacharja Unrecht gegeben? Unter Nehemia wurde die Stadtmauer doch noch gebaut, die Heiden blieben Heiden wie eh und je. Und dennoch wurden Sacharjas Visionen gewissenhaft für die Zukunft überliefert.

In der christlichen Kirche ist das Wort des Sacharja einer der Predigttexte für das Weihnachtsfest. Wie ist es dazu gekommen? Viele Generationen nach Sacharja lasen die Schüler und Schülerinnen Jesu die Reden der Propheten in einem neuen Licht. In den Worten, in den Taten, in der ganzen Person ihres Meisters erahnten, erkannten sie das Wohnen Gottes unter den Menschen, von dem die Propheten gesprochen hatten. Wo Jesus Einzug hielt bei den Menschen, änderte sich ihr Leben. Es entstand eine Gemeinschaft ohne Mauern. Heiden kamen und wurden zu Leuten Gottes. Die Schriften des Neuen Testaments berichten vom Staunen, von der Freude über das Wohnen Gottes mitten unter den Menschen: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir schauten seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14).

Prof. Dr. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte

November 2021

Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf das Warten auf Christus.
(2. Thessalonicher 3,5)

„Na, wie läuft’s denn so?“ Mit diesen Worten fragen Menschen einander, wie es denn so geht, mit den alltäglichen und vielleicht auch größeren Aufgaben und Zukunftsprojekten. Hätte man dem Apostel Paulus und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen diese Frage gestellt, so hätten sie wohl geantwortet: „Brüder und Schwestern, betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch.“ Mit dieser Antwort jedenfalls setzt der Abschnitt ein, aus dem der Monatsspruch stammt (2Thess 3,1). Und man ahnt es schon: Es gibt Schwierigkeiten. Viele Jahre, vielleicht gar Jahrzehnte sind seit dem Weggang Jesu von dieser Erde vergangen. Die Apostelgeschichte des Lukas berichtet vom „Lauf“ des Evangeliums, von Widerständen und Zurückweisungen, auch von gelegentlichen Erfolgen und lokalen Aufbrüchen. Doch die Ausbreitung des Evangeliums ist weniger eine Apostelgeschichte. Sie ist eher eine Missionsgeschichte und auch eine Problemgeschichte. Das ist längst klar geworden. Nüchtern steht in der Mitte des Abschnitts der zum Sprichwort gewordene Ausspruch: „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding“ (2Thess 3,2). – „Ja, fürwahr“, möchte man seufzen. So ist das wohl. Während die frühchristlichen Missionare und Missionarinnen sich weiterhin eifrig mühten, das Evangelium „laufen“ zu lassen, „läuft“ es bis in die Gegenwart wirklich nicht immer gut. Gelegentlich sieht es gar so aus, als ob gar nichts „läuft“. Zeiten des missionarischen und gemeindlichen Stillstands sind manchmal zum Weglaufen. Das war damals nicht anders als heute. Was soll man in einer solchen Situation tun? Die Antwort ist klar: Sich auf das Wesentliche konzentrieren. Konkret heißt das: Sich ganz tief drinnen, da, wo das Herz des Glaubens immer noch am rechten Fleck sitzt, vom Herrn auf Gott ausrichten lassen, der uns zuerst geliebt hat, und auf Christus warten, der uns entgegenkommt. Damit ist die Richtung weiterhin eindeutig. Es geht immer wieder neu darum, sich auf den Weg der Liebe Gottes stellen zu lassen: Auf den Weg, auf dem gute Beziehungen wachsen; auf dem das Wort Gottes gut „läuft“ und Menschen erreicht; auf dem Unbekannte zu Nächsten werden und Feindschaft überwunden werden kann. Auf diesem Weg wird Gottes Treue erfahrbar, und er wird uns „stärken und bewahren vor dem Bösen“ (2Thess 3,3). Das ist der „Lauf“ des Glaubens, aber noch nicht das Ziel. Wir warten nicht einfach auf bessere Zeiten, sondern auf Christus, dass er in unser Leben kommt, schon hier und jetzt und dann einmal in der Herrlichkeit seines Reiches. Von dort „läuft“ uns schon jetzt sein Wort entgegen und weist uns den Weg.

Prof. Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

Oktober 2021

Hebräer 10,24
... und lasst uns aufeinander achthaben
und einander anspornen
zur Liebe
und zu guten Werken ...


Was ist noch zu tun, wenn schon alles getan ist?

Der Versuch, Gott durch Opfer gnädig zu stimmen, muss kläglich scheitern. Auf dieses Dilemma wird im zehnten Kapitel des Hebräerbriefes hingewiesen: Das Opferritual, das eigentlich eine entlastende Wirkung haben soll, wirkt eher belastend. Mit jedem Opfer werden die Betroffenen an ihre Sünden erinnert. Einmal jährlich zu bestimmten Festen oder je nach Anlass. Wer opfert, bleibt in der Rolle der Sünderin, des Sünders. Der Blick ist auf das eigene Scheitern und Versagen gerichtet. Mit dem Opfer wird die Last nicht von den Schultern genommen, im Gegenteil sie wird erschwert. Das ist anstrengend und lohnt sich nicht. Der Mensch bleibt unfrei und auf sich selbst fixiert. In sich verkrümmt, sagt Luther. Der Hebräerbrief erinnert die Angesprochenen daran, dass ihr Fokus sich völlig verschoben hat. Die Anstrengung ist zugunsten der Freude gewichen. Eine neue ungekannte Leichtigkeit bestimmt das Leben. Das Ziel wird zum Ausgangspunkt: Wenn es das Ziel war, Gott durch Opfer gnädig zu stimmen, dann wird hier deutlich, dass dies nicht nötig ist.

Durch Christus ist alles geschehen. Ein für alle Mal.

Wir sind schon an diesem Ziel: Gott hat dem Menschen seine Gnade zugewandt. Gnade ist alles und Gnade allein. So ist Gnade der Ausgangspunkt unseres christlichen Lebens. Wir müssen Gott nicht gnädig stimmen, wir können davon ausgehen, dass er es ist. Die Perspektive hat sich geändert. Der Mensch muss nicht mehr in sich verkrümmt nur auf sich schauen, sein Blick wird frei für andere Menschen: Lasst uns aufeinander achten! Der Mensch wird frei dazu, sich anderen zuzuwenden. Gnade stiftet Beziehung untereinander und so entsteht eine Gemeinschaft der Gnade. Eine Gemeinschaft, die von der Gnade ausgeht und die Liebe übt. Eine Gemeinschaft von Menschen, die einander anspornen, Liebe zu üben. Eine Anstrengung, die lohnt.

Was ist noch zu tun, wenn alles getan ist?

Wir gehen nicht auf das Ziel zu, wir kommen vom Ziel her.
Wir gehen nicht auf die Gnade zu, als könnten wir sie erlangen.
Wir kommen von der Gnade her, sind durch sie verbunden und üben uns in Liebe.
Und darin wollen wir richtig gut werden:

... und lasst uns aufeinander achthaben
und einander anspornen
zur Liebe
und zu guten Werken ...

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

September 2021

Ihr sät viel und bringt wenig ein; ihr esst und werdet doch nicht satt; ihr trinkt und bleibt doch durstig; ihr kleidet euch, und keinem wird warm; und wer Geld verdient, der legt’s in einen löchrigen Beutel. (Haggai 1,6)

Arbeit, Nahrung, Trinkwasser, Kleidung, Geld: In der ersten Predigt des Propheten Haggai geht es um ganz handfeste Dinge. Die Rede trägt ein exaktes Datum: erster Tag des sechsten Monats des zweiten Regierungsjahrs des Perserkönigs Darius. Laut den Kommentaren entspricht das dem 29. August 520 vor Christus. Vom Datum her ist das Prophetenwort also fast auf den Tag genau passend ausgesucht als Monatsspruch für den September 2021, genau 2540 Jahre und zwei Tage nach Haggais Predigt. (Und falls die Leserinnen und Leser jetzt nachrechnen: Ja, es sind tatsächlich 2540 Jahre.) Das Datum passt, aber passt denn auch die Botschaft in den September 2021?

Neunzehn Jahre vor Haggais Auftreten hatten die Perser das babylonische Reich erobert und den nach Babylon deportierten Judäern erlaubt, in die Heimat ihrer Vorfahren zurückzukehren. Dort sollen sie unter der Führung des Serubabel, eines Nachkommen der Könige von Juda, den Tempel von Jerusalem wiederaufbauen. Aber auf die anfängliche Begeisterung folgte eine lähmende Ernüchterung in dem kargen Land, dessen Äcker nie genug Ertrag abwarfen, um richtig satt zu werden. Die Vornehmen unter den Rückkehrern bauten als erstes für sich selbst getäfelte Häuser. Der Tempel lag nach wie vor in Trümmern, der Baubeginn wurde immer weiter hinausgezögert.  Dafür sei die Zeit noch nicht gekommen, sagten die Vornehmen. Aber an sich selbst können die Vornehmen gar nicht früh genug denken, entgegnet der Prophet: weil ihr die falschen Prioritäten setzt, gibt es so viel Mangel im Land, hält Gott Regen und Segen zurück, aber wenn ihr mit dem Tempelbau beginnt, wird das Land endlich aufblühen!

Wenn ich vor siebzig Jahren gelebt hätte und im September 1951 eine westdeutsche Baptistengemeinde dazu hätte bringen wollen, einen Kapellenbau zu finanzieren, hätte ich mir vielleicht diesen Text ausgesucht. Ich hätte wahrscheinlich Hörer gehabt, die den Mangel am Lebensnotwendigen kennengelernt haben und sich nach Wohlstand sehnen. Einige träumten vielleicht von getäfelten Häusern oder fingen schon an, welche zu bauen. Ich hätte ihnen ins Gewissen geredet, den Bau des Hauses des Herrn nicht hintanzustellen, ihren Beitrag zu leisten zum Bauvorhaben der Gemeinde. Und der Aufruf zur Opferbereitschaft hätte dem Gewissen der Hörer gutgetan, denn sie wollten sich nach den Jahren der Entbehrung guten Gewissens des Wohlstands erfreuten, der sich allmählich einstellte. Vielleicht gibt es noch heute gesellschaftliche Kontexte, in denen es solche Predigten und solche Hörer gibt, vielleicht bei den Wohlstandspredigern in den Schwellenländern. Wer könnte es den Armen dieser Erde verdenken, dass sie danach streben, am guten Leben teilzuhaben?

Wir befinden uns aber im September 2021 und in einem reichen Land, das seine wirtschaftlichen Aufbruchszeiten längst hinter sich hat. Vielleicht löst das Wort des Propheten Haggai bei uns ganz andere Assoziationen aus. Mangel an Nahrung und an trinkbarem Wasser muss hier niemand leiden, und auch wenn sich die Verteilung des materiellen Reichtums in Deutschland immer ungleicher entwickelt: die große Mehrheit der Menschheit kann von Lebensbedingungen wie in unserem Land nur träumen. Und dennoch leben hier Menschen, die trotz Arbeit und Geldverdienen, trotz Überfluss an Essen und Trinken und trotz übervoller Kleiderschränke ihr Leben als armselig empfinden, deren Hunger und Durst nicht gestillt ist, die an einer Kälte leiden, gegen die keine Kleider helfen.

Es ist wohl kein Zufall, dass die Stichworte aus Haggai 1,6 auch in der Verkündigung Jesu begegnen. Jesus predigte von der Saat, die vielfache Frucht trägt, vom Brot, das allen Hunger stillt, vom Wasser, von dem man trinkt und nie wieder dürstet, vom Reichtum, der nicht vergeht wie irdische Schätze. Sind das nur zufällig gewählte Metaphern für abstrakte geistliche Verheißungen oder holen uns die Texte der Bibel ab bei unserem Umgang mit ganz handfesten Dingen wie Arbeit, Nahrung, Trinkwasser, Kleidung und Geld?

Prof. Dr. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte

August 2021

Neige, HERR, dein Ohr und höre!
Öffne, HERR, deine Augen und sieh her! (2. Könige 19,16 [E])


Muss man Gott wirklich bitten, dass er hinhört und hinsieht? Sieht und hört Gott nicht eh schon alles, wenn er denn der allmächtige und allwissende Gott ist? Doch hier geht es nicht um eine rechte Lehre von Gott oder vom Glauben, sondern darum, wie man betet – vor allem, wie man in Situationen der Not betet. In der Bibel gibt es viele Gebete, die Gott ansprechen, als wäre er ein Mensch. In erster Linie wählen Betende diese allzu menschlichen Worte und Vorstellungen, weil sie selbst Menschen sind. Wie sollen denn die Worte sein, dass man den allmächtigen Gott angemessen anspricht?! Hat Gott Ohren und Augen wie ein Mensch – Augen, die manchmal schlafen? Ohren, die manchmal taub sind? Das Besondere an Gott, wie ihn uns die Bibel bezeugt, ist, dass er uns Menschen sehr entgegenkommt, sich zutiefst auf uns Menschen einlässt. Darum ist es für die biblischen Texte auch kein Problem, Worte zu enthalten, die von und zu Gott reden, als wäre er ein Mensch. In Jesus Christus wurde Gott Mensch. Darum können wir Gott auch zutiefst menschlich anreden. Es kratzt nicht an seiner Ehre und Erhabenheit. Wenn wir Gott sehnlichst bitten, ehren wir ihn. Wir erkennen unser Begrenztsein und legen unsere Not, unser Leben, in seine Hände. Darum ist jedes bittende Gebet, so menschlich es auch formuliert sein mag, höchstes Lob Gottes.

Die Gebetsworte in 2. Könige 19,6 sind Teil einer Geschichte, die der Jerusalemer König Hiskia erlebt hat. Die Assyrer belagern die Stadt und fordern das schon ausgehungerte Volk auf, sich zu ergeben und nicht in der Gefolgschaft des Königs und im Vertrauen auf ihren Gott ins Verderben zu stürzen; wie auch in den anderen eroberten Städten mit ihren letztlich schwachen Göttern werde auch der Gott Israels mit der Eroberung Jerusalems untergehen. So breitet der König Hiskia in seiner Not die Situation klagend vor Gott aus; er über-betet seine Lage und überdenkt sie, indem er sie Gott erklärt. Hiskias Gebet ist eine Mischung aus Klage, Selbstreflexion und Bitte – vor Gott. Er betet so, weil er weiß, dass es Gott interessiert, wie es ihm und seinem Volk geht. In dieser Situation hat Gott das Gebet letztlich erhört, in einer ähnlichen Situation gut 100 Jahre später nicht, als Jerusalem erobert wurde. Wir haben Gott nicht in der Hand. Wir verstehen nicht, warum er manches Böse verhindert, anderes zulässt. Da bleiben viele Fragen. Entscheidend ist, dass er uns nicht alleine lässt. Wir können mit ihm darüber reden, ehrlich und offen und wie es uns ums Herz ist.

Prof. Dr. Michael Kißkalt
Rektor und Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie

Juli 2021

Gott ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir.
(Apg. 17,27)

Wie ist das, wenn ich heute von Gott erzähle? Wie kommt es in meinem Umfeld an? Paulus begegnet in Athen einem Umfeld, das mit der Botschaft vom Evangelium noch nicht viel anfangen kann. Die Stadt ist geprägt von Götzenbildern, philosophischen Meinungen und Menschen, die ihn als „Schwätzer“ abtun. Es gibt jedoch auch viele neugierige Stimmen unter ihnen. Wissbegierige Menschen, die hören wollen, was Paulus Neues zu erzählen hat.

Wie ist das bei uns heute? In den Buchhandlungen und im Internet finden sich zahlreiche Bücher und Zeitschriften, die von den Vorteilen gelebter Spiritualität berichten. Es ist kein Tabuthema, an eine „höhere Macht“ zu glauben – wie auch immer diese aussehen mag. Doch wie sieht es aus, wenn dieser höheren Macht ein Name gegeben wird: Ich glaube an Gott, den Vater, an Jesus Christus, seinen Sohn und an den Heiligen Geist, der in uns wohnt. Wie reagiert mein Umfeld dann? Paulus greift die Kultur in Athen auf und würdigt die Mühe und Ernsthaftigkeit, die hinter der Götterverehrung steckt. Er findet in dem Altar mit der Aufschrift „dem unbekannten Gott“ einen Ansatzpunkt und nutzt diesen. Er berichtet von einem Gott, der ihm, Paulus, nicht unbekannt ist. Er holt aus und erzählt von diesem Gott, dem einen Gott, der die Welt geschaffen hat, der uns seinen Atem gegeben hat, der Grund ist, warum wir hier sind. Der Gott, in dem alles begründet ist. Der Gott, der sich finden lässt, wenn wir nach ihm suchen. Der Gott, der nahe ist.

Gott umgibt und umringt uns, er ist da – mehr als das: in ihm leben, weben und sind wir. Wie bewusst bin ich mir darüber? Mein Leben ist in Gott gegründet, der Glaube daran bietet einen Ursprung und einen Grund, eine Antwort, ja, einen Namen für das, was sonst unbenannt bleibt. Kann ich darin bewusst sein – in der Gegenwart Gottes, die mich in jeder Minute meines Lebens umgibt? Der Vers aus Apostelgeschichte 17,27 lädt ein, uns erneut bewusst zu werden, dass Gott nicht fern ist – er ist nah, er ist hier. In den alltäglichen Momenten unseres Lebens. Daraus dürfen wir leben, daraus dürfen wir Kraft schöpfen und davon dürfen wir berichten: Von der Gegenwart Gottes, die in uns und um uns ist. Wir dürfen lebendiges Zeugnis für einen lebendigen Gott sein. Gott ist mit uns, in unseren eigenen vier Wänden, in unseren Beziehungen, an unserem Arbeitsplatz. Und vielleicht kann es dieses Bewusstsein sein, dass uns in der nächsten Situation den Mut gibt, offen auszusprechen was wir glauben und an wen wir glauben. Denn: Gott ist nicht ferne von einem jedem unter uns. In ihm leben, weben und sind wir.

Dana Sophie Jansen
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Hochschule Elstal

Juni 2021

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen (Apg 5,29)

In den Lutherbibeln ist dieser Satz fett gedruckt. Das signalisiert: Achtung! Hier haben wir eine biblische Kernstelle vor uns. Merke sie dir gut. Gegen ein solches Verfahren ist nichts einzuwenden. Jedenfalls dann nicht, wenn man diese Sätze nicht aus dem Zusammenhang reißt. Bloße Schriftzitate, aus dem Kontext der biblischen Überlieferung herausgerissen, sind immer gefährlich. Damit kann man zum Fanatiker werden oder zur Fanatikerin, von Schlimmerem ganz zu schweigen. Lassen wir uns also vom Fettdruck dazu anregen, genau hinzuschauen.

Es handelt sich hier um ein Bekenntnis der Apostel, die man mit Predigt- und Lehrverbot belegt hatte. Ihr Bekenntnis vor der höchsten Ratsversammlung in Jerusalem lautet kurz gefasst: Wir gehören und gehorchen dem, der Gottes Liebe und Gottes Gnade in Person ist. Und weil diese Liebe und Gnade Gottes allen Menschen gilt, darum können wir davon nicht schweigen. Damit ist der innerste Kern dessen genannt, was Gehorsam gegenüber Gott meint: In Freiheit zu dem gehören zu wollen, der nicht will, dass Menschen verloren gehen in Selbstzerstörung, Lieblosigkeit, Hass, Gewalt, Einsamkeit und Mutlosigkeit. Und darum von diesem liebevollen, starken Gott zu reden und sich davon nicht abbringen zu lassen. Dass dieses Reden auf Widerstand stoßen kann und wird, liegt auf der Hand. Die Geschichte der christlichen Kirche ist voll von Beispielen dafür, dass Menschen mit ihrem Bekenntnis zum Gott der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens auf Gegenwehr gestoßen sind und dabei nicht selten sogar mit ihrem Leben bezahlt haben. Und die Geschichte der christlichen Kirche ist auch eine Geschichte vieler, allzu vieler Versäumnisse, dieses Bekenntnis klar und deutlich auszusprechen – Gott sei’s geklagt. Der Fettdruck hat also seinen guten Sinn.

Der markante Satz will allerdings noch einmal in anderer Hinsicht genau betrachtet werden. Denn das kleine Wort „mehr“, das darin enthalten ist, könnte sonst leicht übersehen werden. Und dann würde der Satz weltfremd, ja geradezu ideologisch. Dass wir uns gehorsam zu Gott bekennen, schließt ja nicht aus, dass es auch Gehorsam gegenüber anderen Menschen gibt. Es stimmt: Hier hat es viel Missbrauch gegeben durch Zwang, Manipulation und blinden Gehorsam. Und den gibt es immer wieder. Aber es gibt auch einen gesunden Gehorsam, der das Zusammenleben fördert, einen Gehorsam, der Freiheit und Vertrauen atmet: im Erziehungswesen, im Gesundheitswesen, im Arbeitsleben, im Straßenverkehr, im Staatswesen. Niemals aber darf ein solcher Gehorsam mit göttlichen Attributen versehen werden. Hier markiert das „mehr“ die Grenze, die nicht überschritten werden darf – von denjenigen nicht, die Gehorsam fordern, und auch nicht von denen, die Gehorsam leisten.

Prof. Dr. Volker Spangenberg
Professor für Praktische Theologie

Mai 2021

Öffne deinen Mund für die Stummen, für das Recht aller Schwachen! (Spr 31,8 (E))

„Mir fehlen die Worte…“. Solche oder ähnliche Sätze stammeln wir, wenn wir hilflos das Unglück anderer mitansehen müssen. Es gibt eine angemessene Sprachlosigkeit, ein solidarisches Schweigen, das das Floskelhafte fürchtet und offen zugibt, für das Unfassbare keine Worte zu haben. Es gibt aber auch das andere Stummsein, das unsolidarische (Ver)Schweigen, wenn man aus Angst, selbst zum Opfer zu werden wegschaut. Oder wenn man eben aus sicherer Distanz genau hinschaut, aber nichts sagt, nicht eingreift und so tut, als sei man gar nicht beteiligt. So leicht es fällt, die „Gaffer“ zu verurteilen, so schwer ist es doch, den entscheidenden Augenblick zu erkennen, in dem es darauf ankommt, selbst den Mund aufzutun.

Für die Hilflosen und Schwachen einzustehen war im Alten Israel wie im gesamten Alten Orient ein verbreiteter Appell. Götter (Psalm 82), Könige (Psalm 72,1-4) und einfache Bürger (5. Mose 15,11; Hiob 29,12-17) wurden dazu immer wieder ermahnt. In der Realität wurden die Armen jedoch allzu oft sich selbst überlassen. Gründe für das Schweigen fanden sich schnell (siehe Exodus 4,11). Nicht nur damals, immer wieder in der Geschichte und Gegenwart gibt es zahllose Beispiele dafür, wie das Unrecht unter den Teppich gekehrt wird.

Wie lässt sich die Barriere des Schweigens durchbrechen? Ein wichtiger Aspekt dabei ist sicher Empathie, die Fähigkeit sich in die Lage des anderen hineinzuversetzen. Wie es sich anfühlt, von allen Seiten eingeschüchtert zu werden, beschreibt ein Psalmbeter: „[D]ie mein Unheil suchen, planten Verderben und den ganzen Tag haben sie Arglist im Sinn. Ich bin wie ein Tauber, der nicht hört, wie ein Stummer, der den Mund nicht auftut“ (Psalm 38,13-14). Das Nachbeten hilft dabei, sprachfähig zu werden.

Die Sicht der Gedemütigten einzunehmen, sich für die Hilf- und Sprachlosen einzusetzen: das ist der Rat, den die weise Mutter ihrem Sohn, dem König Lemuel von Massa, gab. Diesem nichtisraelitischen König ist nämlich der Abschnitt in Sprüche 31,1-8 gewidmet. Mit ihm dürfen wir uns gerne identifizieren.

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

April 2021

Christus ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung
(Kolosser 1,15 nach der Einheitsübersetzung)

Dass Gott unsichtbar ist, gehört zu seinem Wesen: Gott ist kein Teil dieser Welt, sondern ihr Schöpfer; er ist nicht Materie, sondern Geist; er gehört nicht ins Diesseits, sondern existiert jenseits von Raum und Zeit. Allerdings: Bliebe Gott ausschließlich jenseitig, dann wüssten wir nichts von ihm und könnten ihn auch nicht als Gott verehren. Um Gottesdienst feiern zu können, haben sich Menschen deshalb von Urzeiten an Götterbilder gemacht. Sie meinten, der unsichtbare Gott würde in diesen Bildern Wohnung nehmen. Das Volk Israel und in seiner Nachfolge auch die Christengemeinde aber wussten: Gott wohnt im Himmel und nicht auf Erden, und nichts, was Menschenhände machen, kann ihn abbilden.

Aber ist dann vielleicht die ganze Welt ein Abbild Gottes, ihres Schöpfers? So hat es jedenfalls der große griechische Philosoph Platon gelehrt, und ganz falsch ist das nicht. Der Apostel Paulus hat ja gesagt: „Gottes unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken“ (Römer 1,20). Die Schöpfung ist also in der Tat eine Offenbarung Gottes, aber sie ist es nur deshalb, weil Jesus Christus „der Erstgeborene der ganzen Schöpfung“ ist, wie unser Monatsspruch bekennt. Jesus Christus ist kein Geschöpf, sondern der „einzige Sohn“ Gottes (Johannes 1,14). Durch ihn als Mittler hat Gott die Welt geschaffen: „Es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen“ (Kolosser 1,16). Vom Sohn Gottes gilt, was im alttestamentlichen Buch der „Sprüche“ von der Weisheit Gottes gesagt wird: „Der Herr hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her“ (Sprüche 8,22).

Weil Jesus Christus als der Sohn Gottes zugleich die menschgewordene Schöpferweisheit Gottes ist, darum existiert er „vor allem, und es besteht alles in ihm“ (Kolosser 1,17). Darum ist Christus auch das wahre und eigentliche „Bild des unsichtbaren Gottes“. Die Welt und wir Menschen sind Gottes Ebenbild nur durch Christus, den Schöpfungsmittler, und in Christus, unserem Erlöser. Und weil Jesus Christus Gottes Bild ist, darum beten wir ihn an als die Gestalt, in der sich Gott selbst für uns öffnet. So haben es bereits die ältesten Christengemeinden getan, so tun wir es heute, und so wird es die Gemeinde Jesu tun bis in alle Ewigkeit.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

März 2021

„Jesus antwortete: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ (Lk 19,40)

Was werden sie denn schreien, die Steine? Und wer sind die, die hier schweigen, obwohl sie eigentlich reden sollten?

Mit diesem Wort beantwortet Jesus im Lukasevangelium einen Vorwurf der Pharisäer, die sich darüber aufregen, dass die Jünger Kleider vor dem auf einem Esel reitenden Jesus ausbreiten und ihn mit Worten aus Psalm 118 als Herrn und König preisen. „Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“ Mit diesen Worten huldigt die Menge seiner Anhänger dem nach Jerusalem ziehenden Jesus. Sie begrüßen ihn am Fuße des Ölbergs als den verheißenen Friedenskönig, der Gottes gnädige Herrschaft aufrichten wird und deshalb nicht auf einem Streitross, sondern demütig auf einem Esel Richtung Jerusalem reitet.

Die Pharisäer, die diese Szene miterleben, wollen Jesus dazu bringen, dass er seine Jünger zurechtweist. Aber Jesus antwortet ihnen: „Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ Eine mehr als deutliche Zurückweisung ihres Einspruchs und eine direkte Unterstützung der von den Jüngern vorgetragenen Botschaft. Der, der hier kommt, ist wirklich der von Gott gesandte König des Friedens.

Aufmerksame Leserinnen und Leser des Lukasevangeliums werden sich an dieser Stelle an frühere Stellen des Evangeliums erinnern. Hatten nicht bereits die Engel in der Weihnachtsnacht den Hirten auf dem Feld die Geburt des Heilands verkündet, „welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids“ und dies mit dem Lobpreis bekräftigt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“? Hatte nicht bereits Johannes der Täufer angekündigt, dass Gott dem Abraham aus Steinen Kinder erwecken könnte, wenn die Menschen seine Botschaft nicht annehmen?

Die Botschaft, dass Jesus der Friedenskönig, der von Gott gesandte Heiland der Welt ist, die lässt sich nicht unterdrücken. Diese gute Nachricht kann niemand aufhalten, weil Gott zur Not die Steine diese Botschaft hinausschreien lassen wird. Es geht um zu viel, als dass der Lobpreis Jesu unterbleiben könnte. Entscheidend ist nicht der Weg, sondern dass diese Botschaft ihre Adressaten erreicht. Und wenn es am Ende die unbelebte Natur hinausschreien muss: „Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn!“

Prof. Dr. Ralf Dziewas, Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie an der Theologischen Hochschule Elstal (Fachhochschule)

Februar 2021

„Freut euch darüber, dass eure Namen im Himmel verzeichnet sind!“
(Lukas 10,20 Einheitsübersetzung)

Im Himmel wird also eine Namensliste geführt. Erstaunlich, nicht wahr? Auf dieser Liste zu stehen, ist etwas ganz Besonderes, sagt Jesus seinen Jüngern: Darüber können sie sich freuen – viel mehr noch als über alles Mögliche andere, das sie auch glücklich macht. Dass es im Himmel ein Buch gibt, in dem Namen von Menschen notiert sind, davon ist im Alten wie im Neuen Testament an manchen Stellen die Rede. Das Buch wird verschiedentlich „Buch des Lebens“ genannt (z.B. Ps 69,29 und Phil 4,3). Gemeint ist das Leben bei Gott und mit Gott, das ewige Leben. Von einem „Buch des Todes“ ist nirgendwo in der Bibel die Rede. Niemand braucht also anzunehmen, Gott habe von vornherein festgelegt, wer in den Himmel kommt zum ewigen Leben und wer in die Hölle zum ewigen Tod. Eine solche Vorfestlegung Gottes gibt es nicht.

Aber es gibt das Buch des Lebens, das im Himmel geführt wird. Das ist natürlich bildlich geredet. Das „Buch“ oder „Verzeichnis“ steht dafür, dass im Himmel bestimmte Menschen namentlich bekannt sind. Im Himmel namentlich bekannt zu sein, das bedeutet, vor Gott Gnade gefunden zu haben. So hat Gott zu Mose gesprochen: „Du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen“ (2. Mose 33,17).

Welche Menschen sind das wohl, die Gott in diesem Sinne mit Namen kennt? Auch dazu finden wir Hinweise in der Bibel. In Mal 3,16 heißt das himmlische Namensbuch ein „Gedenkbuch für die, welche den HERRN fürchten und an seinen Namen gedenken“. Es stehen darin also diejenigen, die ihr Leben in Ehrfurcht vor Gott und im Gebet zu Gott führen. In Offb 3,5 sagt der auferstandene Herr Jesus, er will den Namen derer, die im Buch des Lebens stehen, bekennen vor Gott dem Vater und vor seinen Engeln. Damit knüpft er an sein Wort an (Mt 10 32): „Wer nun mich bekennt vor den Menschen, zu dem will ich mich auch bekennen vor meinem Vater im Himmel.“ Wenn am Ende der Zeiten Gott, der Vater Jesu Christi, Gericht hält über alle Menschen, dann wird das Buch des Lebens seine eigentliche Aufgabe erfüllen: Wessen Name in diesem Buch steht, weil er sich vor den Menschen zu Jesus bekannt hat, zu dem wird sich Jesus bekennen vor dem göttlichen Richter und er wird das ewige Leben empfangen.
Diese Zusage Jesu Christi macht die Gläubigen gewiss, dass sie sich vor Gottes Urteil nicht fürchten müssen, sondern sich freuen dürfen, dass sie Jesus in die himmlische Herrlichkeit nachfolgen werden.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Januar 2021

Viele sagen: „Wer wird uns Gutes sehen lassen?“ Herr, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes! (Psalm 4,7 (L))

Es scheint, als gäbe es eine allgemeine menschliche Sehnsucht: Die Suche nach „dem Guten“, der Erfüllung, dem Sinn. Nicht nur die inhaltliche Frage, was dieses Gute ist, sondern auch die Frage nach dem „Woher“ beeinflusst diese Suche. Von wem wird Gutes erwartet? Worin finden wir unsere Erfüllung? Besonders zu Beginn eines neuen Jahres werden die Stimmen aus den Medien, der Werbung und vielleicht auch in unserem Umfeld lauter: Neujahrsvorsätze, neue Hoffnungen, neue Orientierung. Dieses Jahr soll anders werden. Dieses Jahr soll gut werden. Doch worin suchen wir unser Glück? „Viele sagen“ heißt es in diesem Psalm. Viele – das sind auch die Stimmen um uns herum, unsere täglichen Einflüsse, der gesellschaftliche Standard, was als erstrebenswert gilt und wie „das gute Leben“ aussieht. Da kommen bestimmte Bilder und Vorstellungen in den Sinn. Vielleicht lässt sich das Gute für den einen in materiellem Besitz finden – eine besser bezahlte Arbeit, mehr Anerkennung, mehr Erfüllung. Vielleicht lässt es sich in heilen zwischenmenschlichen Beziehungen finden – in starken sozialen Kontakten und Gemeinschaft. Wo und von wem wir uns Gutes erhoffen, das lenkt und steuert unsere Suche, unser Streben, unsere Ausrichtung. Der Psalmist bringt einen Bruch in diese Fragestellung. Der Frage von Vielen stellt er einen direkten Ausruf, eine Aufforderung an Gott, gegenüber: „Herr, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes!“ Der Psalmist muss nicht fragen, wer ihn Gutes sehen lassen wird. Er kann in direkten Kontakt mit Gott treten und um das bitten, was er als „gut“ erfahren hat: Gottes Antlitz ist das Gute, wonach sich sein Herz sehnt. Weiter im Psalm wird dies noch einmal deutlicher: „Du erfreust mein Herz, mehr als zur Zeit, da es Korn und Wein gibt in Fülle.“ (Ps 4,8) Die Freude, das Glück und das Gute, das von Gott ausgeht, sind noch einmal mehr, als diese guten Dinge, an denen wir uns sonst so erfreuen. Der Psalm endet mit den Worten: „Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne.“ (Ps4,9) Dieses Gute, das bei Gott gefunden werden kann – im Licht seines Antlitzes, das über uns leuchtet – gibt tiefen Frieden, Sicherheit und Gewissheit: Bei Gott bin ich gut aufgehoben. Kann auch ich den vielen Stimmen um mich herum aus dieser tiefen Erfahrung heraus antworten, wenn ich gefragt werde, wer uns Gutes sehen lassen wird? Der Psalm lädt ein, unsere Suche nach Erfüllung und dem Guten in der Schönheit Gottes zu finden. Wir dürfen empfangen, denn es ist sein Licht, das über uns leuchtet und uns das Gute sehen lässt. Im Licht seines Antlitzes ist es, dass wir Freude und Frieden finden – ein Leben in Fülle und aus der Fülle heraus.

Dana Sophie Weiner
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Hochschule Elstal

Jahreslosung 2021

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (Lukas 6, Vers 36)

Das als Jahreslosung ausgewählte Jesuswort steht mitten in der Feldrede Jesu. Sie bildet bei Lukas – ähnlich wie die Bergpredigt bei Matthäus – die erste entscheidende Zusammenfassung der Lehre Jesu nach der Jüngerberufung und soll die Leserinnen und Leser des Evangeliums aufrütteln und aus ihrem gewohnten Denken und Handeln herausreißen. Und entsprechend kompromisslos ist die von Lukas überlieferte Botschaft Jesu:

Nachdem dieser zunächst die Armen, die Hungernden, die Weinenden und die Verfolgten seliggepriesen hat (V.20-23), stellt er den Reichen, den Satten, den Lachenden und den Angesehenen sein hartes „Wehe euch!“ wie einen Fluchruf entgegen. Während die Bedürftigen Gottes Nähe zugesprochen bekommen, müssen die, denen es gut geht, mit Unheil und dem Verlust ihrer Sicherheit und ihres Wohlstands rechnen (V.24-26).

Beim Lesen dieser Worte muss denen, die damals als erste ein Exemplar des Lukasevangeliums in den Händen hielten, direkt der Schreck in die Glieder gefahren sein. Wer sich ein auf Papyrus oder Pergament geschriebenes Werk wie das Lukasevangelium leisten konnte, der gehörte sicherlich nicht zu den Armen, sondern zur zweiten Gruppe. Wie soll ich mich verhalten, wenn das die Lehre Jesu ist? Worauf kommt es an, wenn ich trotz meines Reichtums ein Jünger oder eine Jüngerin Jesu sein will?

Nun, die Feldrede Jesu bietet den ratlosen Leserinnen und Lesern direkt im Anschluss an die Weherufe einen Ausweg aus dem angedrohten Unheil: Jesus fordert alle, die ihm zuhören – und damit auch alle, die das Lukasevangeliums lesen – in seiner Feldrede zu einem Leben auf, das ohne Rücksicht auf Verluste die Güte und Barmherzigkeit Gottes widerspiegelt. Die Feinde lieben, ungerechte Gewalt mit entwaffnender Güte parieren, für die Hassenden beten und die Fluchenden segnen, sogar die Räuber noch beschenken und dabei das letzte Hemd weggeben (V.27-30). Es gibt bei Jesus keine Grenzen für das Tun des Guten. Nicht nur denen soll man abgeben, die sich dafür später einmal revanchieren werden – das tun auch die Sünder – sondern auch dann noch abgeben und Geld verleihen, wenn man bereits weiß, dass man es nicht zurückbekommen wird, darauf liegt der Segen Gottes (V.31-35). Wenn ihr so lebt, sagt Jesus, „wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.“ (V.35)

An diese Verheißung schließen sich – gleichsam als ethische Glaubensregel für ein Leben in der Nachfolge Jesu – die Worte der Jahreslosung an: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ (V.36) So radikal hingebungsvoll gütig, so absolut verschwenderisch wie der Vater im Himmel, sollen die sein, die in Jesu Namen unterwegs sind. Und diese bedingungslose Güte und Barmherzigkeit soll die Basis aller konkreten Lebensvollzüge werden. Wer gütig und barmherzig ist, richtet und verdammt nicht, sondern vergibt (V.37-38). Wer den Maßstab der göttlichen Barmherzigkeit anlegt, torkelt nicht blind in die Fallen des Lebensweges und fixiert sich nicht auf den Splitter im Auge des Gegenübers, sondern erkennt rechtzeitig den Balken, der die eigene Sicht behindert (V.39-42).

Es ist diese Ethik der Barmherzigkeit, an der sichtbar werden kann, dass in denen, die Jesus nachfolgen, ein Herz der Güte und Barmherzigkeit schlägt und dass am Baum der Jesusnachfolge gute Früchte wachsen (V.43-45). Und ein barmherziges Handeln ist – mit diesem Bild schließt Jesus seine Feldrede ab – eine stabile Grundlage, auf der sich das Haus des eigenen Lebens so aufbauen lässt, dass ihm auch stürmische Zeiten nichts anhaben werden (V.46-49). Wer um Gottes Barmherzigkeit weiß und daran sein Leben ausrichtet, der erweist sich als Kind des barmherzigen Vaters im Himmel und darf selbst erleben, wie gut es ist, barmherzig zu sein.

Prof. Dr. Ralf Dziewas
Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Dezember 2020

Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! (Jes 58,7 (L))

Eigentlich wollen wir uns jetzt im Dezember auf Weihnachten einstellen, die Adventskerzen anzünden und ein bisschen Ruhe und Frieden genießen. Das dürfen wir, das sollten wir auch, der Corona-Pandemie zum Trotz. Aber: Die Worte des Jesaja erinnern uns daran, dass wir nicht alleine auf der Welt sind, sondern unser „Schalom“ mit dem der anderen Menschen verbunden ist. Wirklich glücklich können wir nur sein, wenn es den Armen und den Benachteiligten um uns herum und in unserer Welt besser geht. Mein Glück gibt es nur als unser Glück.

Die prophetischen Worte antworten auf eine Klage des Gottesvolkes, dass Gott ihre Bitten nicht richtig erhört. Sie beten und fasten, aber Gott reagiert nicht darauf; als ob er nicht da wäre. Der Prophet antwortet: Ihr betet und fastet und gleichzeitig streitet ihr, übervorteilt einander und unterdrückt die Schwachen. Wirklich effektives Fasten und Beten wäre, wenn ihr euch um Gerechtigkeit müht und aufeinander achtet. Gutes tun, Barmherzigkeit üben, das ist ein Beten, das Gott bewegt. Deutliche Worte!

Dass wir Gottes Nähe spüren, und damit auch Frieden und Glück, das wünschen wir uns in der Weihnachtszeit ganz besonders. Dabei werden wir aber immer wieder enttäuscht. Der Weihnachtsfriede mag sich manchmal so gar nicht einstellen. Jesaja ermahnt uns, in dieser Zeit in besonderer Weise an die Armen und Unterdrückten zu denken und unseren Wohlstand mit ihnen zu teilen. Darum machen die Spendenaufrufe in der Weihnachtszeit Sinn und wohl uns, wenn wir dem auch folgen. Ein Schritt weiter wäre es, wenn wir konkret darüber nachdenken, wie wir mit benachteiligten Menschen in unserer Nähe unser Glück teilen können, z.B., indem wir ihnen anbieten, sie zu besuchen oder zu uns einladen. Dabei müssen wir prüfen, was uns in der jeweiligen Situation angemessen ist. Wir müssen uns nicht übernehmen. Aber etwas können wir tun, damit es heller um uns wird, unser „Licht hervorbricht wie die Morgenröte und unsere Heilung schnell voranschreitet“ (V.8). Wir selbst können nur heil werden, Frieden erleben, wenn wir das, was wir haben, mit den Menschen um uns herum teilen. So kann Weihnachten werden und Gott kommt uns ganz nah, in Jesus!

Prof. Dr. Michael Kißkalt
Rektor und Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie

November 2020

Gott spricht: Sie werden weinend kommen, aber ich will sie trösten und leiten. (Jer 31,9 (L))

Hilfreicher Trost bedeutet vor allen Dingen Begleitung. Damals wie heute. Die Formen der Begleitung mögen sich ändern; im Wesentlichen kommt es immer darauf an, einem (oder mehreren) Menschen in herausfordernden Zeiten zur Seite zu stehen, mit zu gehen oder einfach da zu sein.

Die Prophezeiung aus dem Jeremiabuch beschreibt auch Gottes Handeln mit seinem Volk in ganz entsprechender Weise. Den aufgrund von Krieg, Flucht und Vertreibung vermutlich mehrheitlich traumatisierten Menschen wird zugesagt, dass sie getröstet werden, indem Gott sie leitet – was in diesem Fall nichts Anderes als Begleitung heißt, wie bei einer Eskorte. Auf einer assyrischen Reliefdarstellung aus dieser Zeit sieht man, wie Einwohner der eroberten judäischen Stadt Lachisch von den neuen Machthabern aus ihrer Heimat in eine ungewisse Zukunft abgeführt werden. Die Prophetie aus Jeremia wirkt wie ein dazu als Kontrast gemaltes sprachliches Bild: „Ich bringe euch wieder zurück, gehe neben euch her und schütze euch.“ Im vorherigen Vers (Jer 31,8) bezieht sich dieses Versprechen ausdrücklich auf die verwundbarsten Menschen der damaligen Situation: auf Blinde, Lahme, Schwangere und junge Mütter. Die Rückführung der nach Babylon Verschleppten wird mit ähnlichen Worten auch im Buch Jesaja angekündigt: „Denn ihr sollt in Freuden ausziehen und im Frieden geleitet werden“ (Jes 55,12)“. Mit etwas anderer Betonung ist im Buch Hiob ist vom Geleiten des Toten zum Grab die Rede (siehe Hi 21,32) – ein Ritual, das wir aus guten Gründen bis heute pflegen, wenn wir jemanden „zu Grabe tragen“ und zugleich damit die Angehörigen trösten.

Ob es um die gegenseitige Unterstützung im engsten Familienkreis, in der Gemeinde oder vielleicht in einer Trauergruppe, in der sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gegenseitig von ihren Erfahrungen erzählen, geht: Die Formen der Begleitung mögen sich wandeln – gute Beziehungen zueinander sind in unserer heutigen Zeit, in der viele Menschen durch die äußeren Umstände ganz auf sich selbst zurückgeworfen sind, wichtiger denn je.

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

Oktober 2020

Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn; denn wenn´s ihr wohlgeht, so geht´s auch euch wohl. Jeremia 29,7 (Luther)

Dieser Aufruf erreicht Menschen inmitten einer sehr herausfordernden und leidvollen Lebenssituation. „Suchet der Stadt Bestes!“ Das ist eine Aufgabe, die genau diese Menschen in ihrer eigenen Stadt, in Jerusalem, gerne und gut erfüllen konnten. Dort hatten sie die wichtigen Positionen besetzt, Verantwortung übernommen, Menschen geführt, die Stadt aufgebaut, ihre Kompetenzen eingebracht, Karriere gemacht. Und jetzt sitzen sie mit dem König und seiner Mutter, einigen Ältesten, Priestern und Propheten, mit der Jerusalemer Führungsschicht und den Menschen, die zum Aufbau einer Stadt wichtig sind, der Stadtverwaltung, den Finanzfachleuten, Schmiedemeistern und Zimmerleuten, hier in der Fremde. Nun leben sie in Babylonien mitten unter ihren Feinden; besiegt und weggeführt, ohnmächtig und handlungsunfähig. Sie schauen zurück und trauern, und sie fragen sich: Wie lange noch? Wann können wir wieder zurückkehren? Wann ist das hier endlich vorüber? Hoffentlich schon bald?
Einige sagen es so: Ja, schon bald wird Gott euch aus dieser Situation herausführen. Er wird Euch zurückbringen. Anders Jeremia. Er macht keine falschen Versprechungen. Er sagt, was wahr ist und weh tut, aber er eröffnet auch neue Perspektiven. So schnell wird diese Situation nicht enden, macht er deutlich. Wer etwas anderes behauptet, der lügt. Es wird kein schnelles Ende geben, keine baldige Rückkehr. Richtet euch ein, baut Häuser, legt Gärten an, bekommt Kinder, bringt euch ein mit euren Kompetenzen, hier in dieser Stadt. Es wird lange dauern, mehrere Generationen werden hier leben. Nach 70 Jahren erst werdet ihr nach Jerusalem zurückkehren. Das sind keine gefälligen Worte. Das wäre Grund genug zu Resignation und Rückzug. Aber Jeremia eröffnet eine Perspektive der Hoffnung: Die Zeit in Babylonien wird keine verlorene Zeit. Gott ist die Situation nicht entglitten. Auch wenn das Volk besiegt ist und ins Exil geführt wurde, Gott ist nicht besiegt. Er ist der Handelnde. „Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen...“ Jeremia führt dem Volk die guten Gedanken und Absichten Gottes vor Augen: „Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“ Und er fordert zu einem Handeln in dieser Perspektive der Hoffnung auf. In Krisenzeiten geht der Blick oft zurück und es wird nach der Ursache gefragt. Oder der Blick geht weit nach vorn und es scheint, dass ein neues Engagement erst wieder möglich ist, wenn die schwierige Zeit der Krise vorüber ist. In der Perspektive der Hoffnung, dass Gott die Situation in seinen Händen hält und dass er eine Zukunft zusagt, ist ein Handeln im Hier und Jetzt möglich. Baut Häuser, legt Gärten an, bekommt Kinder, sorgt dafür, dass das Leben weiter geht und macht es hier, in dieser Stadt, bringt euch hier mit euren Kompetenzen ein. Das Leben wird in der Krise gestaltet, nicht erst danach. Und Schritt für Schritt kann so neues Vertrauen wachsen. Und Schritt für Schritt wächst ein neues Gottesverständnis mit. Das ist die eigentliche Herausforderung: Wie ist Gott in dieser Krise neu zu verstehen? Hat er uns verlassen? Ist auch er durch einen Feind besiegt worden, also zu schwach zu helfen? Wer ist Gott, wenn das Leben jetzt so ist? Wie können wir das verstehen? Diese Fragen bewegen die Menschen im Exil und sie kommen zu gültigen Antworten: Gott ist Schöpfer und Herrscher der ganzen Welt und nicht nur eines Volkes. Wenn das Volk besiegt ist, ist es Gott noch lange nicht. Er hält das Leben und die Geschichte und die Zukunft in seiner Hand. Er ist der eigentlich Handelnde und wir können ihm vertrauen. Es gilt, das Leben in der Tiefe zu verstehen und theologisch zu durchdringen. Einfache Antworten greifen zu kurz und entpuppen sich als Lüge. Im Exil, in der Krise entsteht eine neue Weltsicht, ein neues, tieferes Gottesverständnis, eine neue Theologie. Das ist das, was uns angesichts der Herausforderungen unserer Zeit nur zu wünschen ist. Welche Theologie brauchen wir heute? Eine der schnellen Antworten oder eine, die uns trotz einer Lebenssituation, die von Ohnmacht und Hilflosigkeit bestimmt ist und Angst und Lähmung auslöst, zum Handeln in der Perspektive der Hoffnung auffordert?

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

September 2020

Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat.
(2. Korinther 5,19/Einheitsübersetzung)

Das Ja Gottes ist klar und eindeutig. Daran sollte eigentlich kein Zweifel bestehen. Doch auf einmal waren sich die Christen in Korinth nicht mehr so sicher. Was war geschehen? Paulus hatte angekündigt, auf seinem Weg nach Mazedonien kurz in Korinth vorbeizuschauen (2Kor 1,15f.). Für den Rückweg hatte er sich einen zweiten Besuch dort vorgenommen. Beide Aufenthalte sollten dazu dienen, der korinthischen Gemeinde die Gnade Gottes zu verkündigen. Zweimal Gnade, – doppelt hält bekanntlich besser. Doch dann hatte der Apostel erneut seine Reisepläne geändert. Das hatte in Korinth für Irritationen gesorgt und kritische Rückfragen ausgelöst: Gilt für den Apostel „zugleich Ja, Ja und Nein, Nein“ (2Kor 1,17)? Und das nicht nur für seine Reiseplanung, sondern womöglich auch für seine Verkündigung? Heute hü und morgen hott? Paulus versucht, die Kritik der Korinther an seiner Person ernst zu nehmen und vor allem der Verunsicherung ihres Glaubens mit einem deutlichen Ja zu begegnen (2Kor 1,19f.): „Denn Gottes Sohn Jesus Christus, der euch durch uns verkündet wurde – durch mich, Silvanus und Timotheus – , ist nicht als Ja und Nein zugleich gekommen; in ihm ist das Ja verwirklicht. Denn er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat. Darum ergeht auch durch ihn das Amen zu Gottes Lobpreis, vermittelt durch uns.“

Auf diese Weise und vor diesem Hintergrund betont Paulus das Ja Gottes. Dabei erinnert er nicht nur an Gottes zahlreiche Verheißungen (2Kor 1,20). Sondern er unterstreicht zugleich deren Zuspitzung „in Christus“. Ganz allein Gottes Handeln durch Christi Tod und Auferstehung hat die Versöhnung aufgerichtet. Das versöhnende Handeln kommt von Gott her und führt zu ihm hin. Es ist am Kreuz grundlegend geschehen und kommt zum Ziel, wo die Verkündigung des Evangeliums angenommen wird. Nicht wir Menschen müssen uns mit Gott versöhnen, sondern er hat uns in Christus in die Versöhnung hinein gezogen. Diese Botschaft lässt Gott durch Paulus und die Christen und Christinnen aller Zeiten an jene ausrichten, die davon noch nicht gehört oder ihr noch nicht zugestimmt haben (2Kor 5,20b): „Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen.“
Fest steht: Gott ist nicht Ja und Nein zugleich, und wir müssen das auch nicht sein. Nicht in unseren alltäglichen Planungen und Beziehungen und schon gar nicht im Hinblick auf Gottes Liebesbeziehung zu uns. Zum großen, grundlegenden und umfassenden JA Gottes gehört unser kleines, vielleicht zweifelndes, tastendes, mutiges, wachstumsfähiges, die Versöhnung in Jesus Christus für uns wahr sein lassendes: ja.

Prof. Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

August 2020

Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Ps 139,14 (L)

Wofür dankt der Psalmbeter hier eigentlich? Für bestimmte Vorzüge, die er vom Schöpfer mitbekommen hat? Etwa: „Ich danke dir, Gott, dass ich kräftig, willensstark, klug, schön oder hochbegabt bin?“ Ja, wenn man das ist, kann und soll man Gott gewiss dafür danken und es zum Wohle anderer einsetzen. Aber an solche Vorzüge seiner Person denkt der Psalmbeter hier gar nicht. Das deutsche Wort „wunderbar“ bedeutet ja nicht nur „herrlich“, „großartig“ oder „sehr schön“, sondern auch „erstaunlich“ und „wie ein Wunder erscheinend“, und eben diese zweite Bedeutung kommt dem Sinn der Psalmworte am nächsten. Im Deutschen gibt es zudem das Eigenschaftswort „wunderlich“, und auch dieses Wort würde hier passen – nicht im Sinne von „seltsam“ oder „schrullig“, sondern im Sinne von „zur Verwunderung Anlass geben“. Der Psalmbeter staunt also über die Weise, wie Gott ihn und jeden Menschen erschaffen hat: „Du hast mich in einer Weise gemacht, die Staunen erregt und so außergewöhnlich ist, dass man vor Ehrfurcht schaudert.“

Nun könnte jemand einwenden: Heute können wir so nicht mehr beten, denn heute wissen wir, wie ein Mensch im Mutterleib entsteht, und können es mit technischer Hilfe sogar sehen. Also kein Staunen, keine Ehrfurcht vor dem Leben mehr? Doch, auch heute noch! Denn immer noch ist es erstaunlich, wie zweckmäßig alle Vorgänge sind, die zur Entstehung und zur Geburt eines Menschen führen. Es drückt sich in ihnen ein überlegenes Wissen aus. Manche sprechen von einem Wunder der Natur, Christen sprechen vom Wunder Gottes. Darum können auch wir heute mit dem Psalmisten beten: „Du, Gott, hast mich gebildet im Mutterleibe“ (V. 13). Statt mit „gebildet“ kann man hier auch übersetzen „gewoben“ oder „bunt gestickt“. Der menschliche Leib ist also wie ein kunstvolles Geflecht, in dem eins ins andere greift. Und obwohl man heute anscheinend alles erklären kann, wirklich verstehen können wir es nicht.

Der gesamte Psalm 139 ist eine Anbetung Gottes, des allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Schöpfers. Wer also den Monatsspruch recht bedenken will, der erhebe die Gedanken von sich selber weg zu Gott dem Schöpfer. Er bedenke, dass der Monatsspruch ein Gebet zu Gott ist, und stimme in dieses Gebet ehrfürchtig mit ein.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Juli 2020

Der Engel des Herrn rührte Elia an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir! (1. Könige 19,7)

Elia war auf der Flucht, er hatte Angst um sein Leben. Nachdem er seinen Diener in Beersheba in Juda gelassen hatte, floh er allein in die Wüste. Die Wüste, der Ort der Einsamkeit, der Ort, wo Leben nicht wachsen kann. Im Weltbild des Alten Testaments einer der lebensbedrohenden, lebensfeindlichen Gebiete der Welt. In dieser Einsamkeit lässt sich Elia nieder und gibt auf – er gibt sein Leben auf und bittet Gott, es ihm zu nehmen. Doch Gott hat andere Pläne. Ein Engel des Herrn weckt Elia aus seinem Schlaf und fordert ihn auf: Steh auf und iss! Dort, mitten in der Wüste, bekommt Elia das, was er zum Leben braucht. Er findet einen Krug Wasser und geröstetes Brot neben sich liegen. Elia isst und legt sich wieder schlafen. Es ist eine tiefe Erschöpfung, die Angst, das auf der Flucht sein, die Last seines Gewissens und das Gefühl, nicht besser zu sein, als seine Väter – all diese Gedanken und Emotionen wirken sich bei Elia in einem resignierten, erschöpften Schlaf aus. Doch der Engel kommt zum zweiten Mal. Er weckt Elia erneut: Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.

In der Bibel ist die Wüste nicht immer als lebensbedrohlich dargestellt. Ganz im Gegenteil. Nicht selten ist es in der Stille, Leere und Einsamkeit, dass Menschen Begegnungen mit Gott haben, die ihrem Leben neue Hoffnung und Kraft geben. So auch bei Elia. Er hatte aufgegeben, doch Gott hatte ihn noch lange nicht aufgegeben. Der Weg in die Wüste war der Weg zu seiner weiteren Bestimmung. Es war in der Wüste, dass er neue Kraft zum Leben bekam, dass ihm eine Perspektive gezeigt wurde. Doch bis Elia in diese Bestimmung und Perspektive eintreten konnte, musste etwas anderes passieren: Er brauchte Zeit – Zeit zum Schlafen, Zeit in der Stille und Nahrung für seinen Körper. Gott bereitet Elia vor, indem er ihm menschliche Grundbedürfnisse zur Verfügung stellt. Nicht optional, denn Elia wird mehrmals von dem Engel darauf hingewiesen, Gebrauch von diesen Bedürfnissen zu machen. Er bekommt Schlaf, Nahrung und Wasser, er wird geweckt, wenn es Zeit zum essen ist, er wird geweckt, wenn es Zeit für den nächsten Schritt ist. Diese Ruhe in der Wüste, in der Elia aufgebaut wird, gibt ihm letztendlich Kraft, um vierzig Tage und vierzig Nächte, bis zum Berg Horeb, zu laufen. Diese Tage in der Ruhe und Stille waren wichtig und essentiell, um die nächsten Schritte zu tun.
Die Geschichte von Elia verdeutlicht, dass es unterschiedliche Phasen gibt, die alle ihre Berechtigung haben. Die letzten Wochen und Monate waren geprägt von sozialer Isolation, von Unsicherheiten und für viele sicherlich auch tiefer Einsamkeit. Vielleicht ist auch jetzt eine Wüstenzeit, in der wir in der Stille und Einsamkeit auf Gott warten können. Vielleicht ist es für einige von uns an der Zeit, nicht mehr auf der Flucht zu sein, sondern sich versorgen zu lassen – da und genau dann, wenn uns Unsicherheiten und Dürre umgeben. Vielleicht ist es Zeit, aufzuwachen, um zu essen und sich zu stärken. Und vielleicht ist es aber auch an der Zeit, aufzustehen und loszugehen. Die Wüste ist nicht der Ort, wo alles endet. Bei Elia ist sie der Ort, wo der Grundbaustein für Neues gelegt wird. Denn da, wo wir aufgeben wollen, da hat Gott einen anderen Plan.

Dana Sophie Weiner
Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Hochschule Elstal

Juni 2020

Du allein kennst das Herz aller Menschenkinder. (1.Kön 8,39 (L))

Als König Salomo diesen Satz sprach – als Bestandteil eines umfangreichen Gebetes anlässlich der Einweihung des Jerusalemer Tempels –, konnte er trotz all seiner Weisheit nicht ahnen, in welch globaler Bedeutungsdimension sein Gebet eines Tages gesprochen werden würde. Dass Gott das Herz aller Menschen kennt, genauer: das Herz all jener „die da ihre Plage spüren, jeder in seinem Herzen“ (V. 38), bezieht Salomo auf Klagen über Unglücksfälle (Krankheiten, Hungersnöte oder Kriege), die zunächst sein Volk, also Israel, treffen könnten. Und weil Gott das Herz aller Menschen genau kenne, darum möge er auch rettend eingreifen, wenn jede und jeder sich aus ganzem Herzen an ihn wende, wie groß auch immer die Not sei. Doch auch Nichtisraeliten schließt Salomo in sein Gebet ausdrücklich ein (V. 41). Damit teilt er eine den gesamten Alten Orient verbindende Gewissheit, der zufolge die Götter sich erbarmen, wenn das Schicksal die Menschen unversehens trifft. Wie umfassend dieses quasi ökumenische Gebet dreitausend Jahre später klingen würde, konnte er zwar nicht wissen, doch er war damit seiner Zeit schon voraus. Manche moderne „Salomos“ warnten schon seit Längerem, dass ein kleines, unsichtbares „Gift“ (lat. virus) in der Lage sein würde, binnen kurzer Zeit Millionen Menschen um den gesamten Globus zu infizieren und die Weltwirtschaft an den Rand des Kollaps zu bringen – sie wurden meist überhört. Würde Salomo heute beten, dann darum, dass wir in massiven Krisenzeiten, die uns in vielen Bereichen zur sozialen Isolation zwingen, den anderen nicht aus den Augen verlieren – gerade weil wir nicht in ihn hineinschauen können. Der Blick zu Gott, der das Herz aller Menschen kennt, zeigt uns die Würde des/r Anderen und dass wir einander brauchen, um Mensch zu sein, auch wenn jeder Mensch ein Individuum ist. Möge uns das Gebet Salomos daher immer wieder in unserem Handeln leiten.

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

Mai 2020

Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat. (1. Petr 4,10)

Was erwartet man von einem guten Verwalter? Zunächst einmal, dass er das, was ihm zur Verwaltung anvertraut wurde, gut bewahrt und für seinen ordnungsgemäßen Einsatz Sorge trägt. Aber darüber hinaus auch, dass das ihm übertragene Vermögen sich vermehrt und möglichst gute Ergebnisse hervorbringt. Der Verfasser des 1. Petrusbriefes gebraucht dieses Bild aus dem antiken Wirtschaftsleben, um alle Mitglieder der christlichen Gemeinden anzusprechen. In seiner Gemeindeermahnung, die von V.7-11 reicht, fordert er die Christen auf, aus der Hoffnung des Glaubens heraus, ihr Zusammenleben so zu gestalten, dass die Liebe deutlich wird, die die Gemeindemitglieder miteinander verbindet. Dazu gehört sowohl die Fürbitte füreinander (V.7) wie die liebevolle wechselseitige Vergebung der Sünden (V.8) und die Bereitschaft die bedürftigen Gemeindemitglieder zu versorgen, ohne dabei zu murren (V.9).

Und an diese Ermahnungen schließt sich der Monatsspruch an, der gleichsam eine allgemeine Regel für das Miteinander in der Gemeinde formuliert: Alle Gläubigen sollen die Gaben, die Gott ihnen gegeben hat, nicht für sich behalten, sondern sie so einsetzen, wie es ein guter Verwalter täte. Gott hat allen Gemeindemitgliedern unterschiedliche Gaben gegeben. Diese können sehr vielfältig sein, aber alle lassen sich zum Dienst für andere einsetzen. Wer über die Gabe des Betens verfügt, kann die anderen in seine Gebete einschließen. Wer die Gabe der Liebe hat, soll den anderen vergeben. Und wer über ein Haus oder die notwendige Finanzkraft verfügt, soll den Bedürftigen Gastfreundschaft erweisen. Und die Liste ließe sich mit weiteren Gaben verlängern.

Entscheidend ist die Haltung, aus der heraus die Gemeindemitglieder ihre Gaben einsetzen sollen. Weil sie unverdiente Gnadengaben Gottes sind, sollen sie so gebraucht werden, dass neue Gnade entsteht. Gnade lässt sich nicht dadurch vermehren, dass man sie knapphält, um ihren Preis hochzutreiben, sondern nur, indem man sie kostenlos weiterverschenkt. Weil Gott aus seiner Gnade den Menschen spezifische Gaben geschenkt hat, können und sollen diese die Gaben in das Gemeindeleben investieren. Nur im Dienst aller an allen kann die Vielfalt der Gnadengaben von allen erlebt werden. Nur wenn niemand seine Gaben für sich behält, erhalten alle an allen Gaben Anteil. Nur so wird dann auch die bunte Vielfalt der Gnade Gottes von allen erkannt werden.

Diese Ethik eines gnädigen, sich wechselseitig beschenkenden Miteinanders, die der 1. Petrusbrief hier seinen Leserinnen und Lesern vor Augen stellt, überfordert niemanden. Nur das soll geteilt werden, was zuvor verliehen wurde. Nur das, für das alle als Verwalterinnen und Verwalter der Gnade Gottes Verantwortung tragen, soll eingebracht werden. Und das ist auch möglich, denn jeder Dienst, der aus der Gnade Gottes heraus geschieht – das macht der abschließende Vers 11 deutlich – lebt letztlich von der Kraft, die Gott geschenkt hat und immer wieder neu dazu gibt.

Prof. Dr. Ralf Dziewas
(Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie an der Theologischen Hochschule Elstal)

April 2020

Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich (1. Korintherbrief 15,42)

Wer sich nicht vorstellen kann, wie eine Auferstehung der Toten aussehen soll, der kann sich vielleicht mit der Erkenntnis trösten: Bereits in den ersten Christengemeinden gab es Menschen, denen es ähnlich ging. Die Apostel hatten verkündigt: Am Ende der Weltgeschichte werden die Toten auferstehen, und zwar nicht, um irgendwann einmal wieder zu sterben, auch nicht, um als bloße Geister weiterzuexistieren, sondern um in einem neuen Leib ewig zu leben. Diese Erwartung hatten Jesus und seine Apostel vom Judentum ihrer Zeit übernommen. Für nicht-jüdische Christen aber war das schwer zu verstehen. Sollen wir im kommenden Reich Gottes etwa wieder dieselben Leiber tragen wie jetzt – aus Fleisch und Blut? Dann könnten wir in der kommenden Welt allerdings nicht ewig leben, denn Körper aus Fleisch und Blut sind notwendigerweise sterblich.

Der Apostel Paulus antwortet auf diese Frage mit einem Hinweis auf die Natur. Dort gibt es Gestaltwandel: Ein Weizenkorn verändert, nachdem es ausgesät wurde, in der Erde seine Gestalt: Aus einem Korn wird ein Halm mit einer Frucht. So ähnlich können wir uns auch die Auferstehung vorstellen. Unsere jetzigen Leiber sind verweslich. „Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück“, hatte Gott zu Adam gesagt (1. Mose 3,19). Bei der Auferweckung aus dem Tode bekommen wir aber einen Leib anderer Art, nämlich einen überirdischen, vom Geist Gottes durchdrungenen Leib. Dieser Leib ist nicht mehr armselig, sondern herrlich, nicht mehr schwach, sondern stark, nicht mehr verweslich, sondern unverweslich. In diesem irdischen Leben haben wir alle einen sterblichen Leib wie Adam ihn hatte. Im kommenden Gottesreich dagegen werden wir einen unsterblichen Leib erhalten wie ihn der auferstandene Christus hatte.

Dann wird der Tod endgültig besiegt sein.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

März 2020

Jesus Christus spricht: Wachet! (Markus 13,37)

Wer glaubt, muss wach sein. Natürlich können auch glaubende Menschen nicht ohne Schlaf auskommen. Das sollen sie auch nicht. Guter Schlaf ist etwas Wunderbares. Und schöne Träume erhellen nicht nur die Nacht, sondern leuchten zuweilen sogar in den Tag. Aber das Kennzeichen von Christen ist nicht der Schlaf, sondern das Wachsein. Denn nur wer wach ist, ist bereit für Begegnungen. Wer schläft, bleibt immer bei sich. Das Wesen des Glaubens jedoch ist es, sich aus sich selbst herausrufen zu lassen. Um nicht mehr unentwegt um sich selbst zu kreisen, sondern dem auferstandenen Christus zu begegnen. Unter den vielen Stimmen, die uns täglich umgeben und uns müde machen, hört der Glaube seine Stimme. Die fordert unsere Aufmerksamkeit nicht lautstark, sondern erbittet sie behutsam. Um sie zu hören, müssen wir daher hellwach sein. Ein Leben lang. In dieser Wachheit erwartet unser Glaube dann auch zugleich die unmittelbare und universale Begegnung mit Jesus Christus am Ende aller Tage und Nächte. Denn, so hat es ein lateinamerikanischer Dichter einmal einprägsam formuliert: „Wir sind noch nicht im Festsaal angelangt. Aber wir sind eingeladen. Wir sehen schon die Lichter und hören die Musik“ – wenn wir wach sind. Der Glaube will aber auch darum wacher Glaube sein, um mit seinen Mitmenschen eine gemeinsame Welt zu haben. Die Schläfer haben immer nur ihre eigene Welt. Da kommt es zu keinen Begegnungen. Einander begegnen – wirklich begegnen – können wir nur als wache Menschen. Nur dann nämlich sind die Augen geöffnet und wir können uns sehen: in unserer Freude und in unserem Kummer, in der zum Himmel schreienden und in der oft genug auch verborgenen Not. Die vor uns liegende Passionszeit kann man als eine besondere Zeit zur Wachsamkeit begreifen und gestalten. Wer mit Christus den Weg zum Kreuz mitgeht, muss schließlich geistlich und geistig hellwach sein. Und damit wir dabei nicht allein auf uns gestellt sind, haben wir viele andere Christinnen und Christen an unserer Seite. Die rufen uns, wenn es nötig ist, das Wort unseres Herrn ins schläfrig verschlossene Ohr: Wach auf!

Prof. Dr. Volker Spangenberg
Professor für Praktische Theologie

Februar 2020

Ihr seid teuer erkauft; werdet nicht der Menschen Knechte. (1.Kor 7,23)

Paulus setzt mitten in der Lebenswelt seiner korinthischen Leser und Leserinnen ein. Er zeigt ihnen Lebensperspektiven von höchster Relevanz auf: Sie sind jetzt nicht mehr Knechte von Menschen, sondern Diener Christi. Wo moderne Übersetzungen meist von „Knechten“ sprechen, da geht es in der Antike eigentlich um „Sklaven“. Von ihnen gab es auch in der korinthischen Gemeinde etliche. Wenn nun jene Sklaven das Wort für „Herr“ hörten oder lasen, dann dachten sie wohl nicht zuerst daran, mit erhobenen Händen Christus als ihren Herrn zu preisen. Viel eher bedrückte sie der Gedanke an ihren allzu irdischen Besitzer. Für jene „Herren“ waren Sklaven nicht ein menschliches Gegenüber, sondern ein „Objekt“, ein „Besitz“, über den man mit mehr oder eher weniger Wertschätzung verfügen konnte. Warum wurden Menschen zu Sklaven? Einige verkauften sich selbst in die Sklaverei, um damit Schulden abzuzahlen. Andere wurden von einer Mutter geboren, die bereits Sklavin war und ihnen den Status gleichsam vererbte. Gelegentlich liest man auch von Sklavenhändlern (vgl. 1.Tim 1,10), die Kinder oder Erwachsene entführten und verkauften. Auch Kriegsgefangene wurden zu Sklaven gemacht. Zwar berichten antike Quellen auch von Sklaven, die im Haushalt oder als Landarbeiter, Finanzverwalter, Lehrer ebenso wie als Sekretäre durchaus verantwortungsvollen Tätigkeiten nachgingen. Solchen mochte es durchaus besser gehen als „freien“ Tagelöhnern. Andere dagegen mussten in Bergwerken gesundheitsschädliche Arbeit verrichten, wurden sexuell ausgebeutet oder fanden als blutiges Vorprogramm in der Arena ein tödliches Ende. Manche hatten die Aussicht auf Freilassung, andere wurden nach vielen Jahren „als altes Gerümpel ausrangiert“, wie der griechische Schriftsteller Plutarch (geb. um 45 n.Chr.) formuliert. Ob es einem Sklaven oder einer Sklavin gut oder schlecht erging, hing zentral von ihrem Herrn ab. Genau hier setzt die Argumentation des Paulus an. Im Hintergrund steht die Frage: Wer ist der Herr der korinthischen Christen und Christinnen, seien sie nun Sklaven, Freigelassene oder Freie? Ihr sozialer Status war durchaus unterschiedlich. Aber für alle gilt, egal ob Sklaven oder Freie: Sie sind allesamt „einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Für diese Befreiung hat Christus sich selbst in die Rolle eines Sklaven begeben (Phil 2,7) und ist am Kreuz stellvertretend gestorben. Damit hat er den entscheidenden Herrschaftswechsel „teuer erkauft“. Juden und Griechen, Sklaven und Freie ebenso wie Männer und Frauen bekennen sich jetzt zuallererst zu Jesus Christus als ihrem Herrn, dem sie allein uneingeschränkt gehören. Damit ist der entscheidende Impuls gesetzt, der später zur Abschaffung von Sklaverei führte. Entsprechend gilt auch heute: Wo immer neu aufkommende Formen von Menschenhandel Gottes Geschöpfe entwürdigend degradieren, ist dem mutig entgegenzutreten! Jeder Mensch ist eingeladen, ein „Sklave Christi“ zu werden (1.Kor 7,22) und dadurch die Würde eines geliebten Gotteskindes zu erlangen. Der Gegensatz zu irdischer Sklaverei könnte dabei kaum größer sein. Denn bei Jesus Christus gilt, wie es in einem Lied heißt: „Er wird ein Knecht und ich ein Herr; das mag ein Wechsel sein.“ So können wir jetzt gemeinsam singen: „Lobt Gott, ihr Christen alle gleich“.

Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

Januar 2020

Gott ist treu. (1. Kor 1,9)

Treue erwartet man von Ehepartnern und lobt sie an Hunden. Bei Menschen ist sie eine Tugend, bei Hunden beruht sie auf Dressur, die die natürlichen Instinkte des Tiers lenkt und formt. Es ist auch ein weises Wort, dass man sich selbst treu sein soll. Das kann in Konfliktsituationen bekanntlich sogar bedeuten, dass man anderen Menschen die Treue aufkündigen und seine eigenen Wege gehen muss. Wer allerdings nur noch sich selbst treu sein kann oder will, hat es aufgegeben, anderen Menschen zu vertrauen. Bei Treue geht es um Vertrauen zu einem Gegenüber, um Beziehung, die sich bewährt in einer gemeinsam erlebten Geschichte.
Dass Gott treu sei, klingt für manche Menschen vertraut und selbstverständlich, für andere dagegen sonderbar oder gar absurd. Zu der Zeit, als der Apostel Paulus seinen ersten Brief an die Gemeinde in Korinth schrieb, hätten die meisten Leute auf der Straße mit dem Kopf geschüttelt, wenn man ihnen gesagt hätte, Gott sei treu. Nicht dass sie an der Existenz des Göttlichen oder von Göttern zweifelten, das taten damals nur wenige, aber sie verstanden darunter vor allem jene unberechenbaren Mächte, denen das menschliche Leben ausgeliefert ist: Naturgewalten, Gesundheit, Krankheit, Reichtum, Armut, Liebe, Tod wechseln ohne Mitleid und auf unbegreifliche Weise einander ab.

Als nah und schwer zu fassen, als unwiderstehlich mächtig, aber völlig willkürlich erlebten die Griechen das Göttliche. Die Ungebildeten und Abergläubischen versuchten die Götter durch Opfergaben zu besänftigen. Die aufgeklärten Philosophen lehrten, dass man nur sich selbst vertrauen dürfe. Man müsse sich innerlich  von allem frei machen, was Menschen oder übermenschliche Mächte einem an Gutem oder Bösem zufügen können. Nur sich selbst dürfe man treu sein, lehrten die Philosophen, nichts dürfe man fürchten und auf nichts hoffen, was nicht in der eigenen Macht stehe.

Das Leben des Apostels Paulus war nicht weniger als das Leben anderer Menschen ein wechselvolles Auf und Ab von frohen und schweren Zeiten, war Gefahren, Leid, Krankheit und Schmerzen ausgesetzt. Dass Gott treu ist, schrieb Paulus, weil er unter dem Wort „Gott“ nicht das unberechenbare, unausweichliche Schicksal verstand, sondern den Gott Israels, den Vater Jesu Christi.

Paulus begriff sein Leben als Teil der großen Geschichte der Treue, die einst mit Gottes Verheißungen an Abraham begann und die sich durch die ganze Geschichte des Volkes Israel zieht und zu der durch Jesus alle Menschen eingeladen sind. Wenn jemand der Botschaft der Bibel begegnet und sein Leben als Teil der großen Geschichte Gottes mit den Menschen zu sehen lernt, wenn diese Geschichte zum roten Faden im eigenen Leben wird, wenn jemand gemeinsam mit anderen Gläubigen unterwegs ist, dann wird zur lebendigen Erfahrung, was Paulus zu den Korinthern schrieb: „Gott ist treu, durch den ihr berufen seid zur Gemeinschaft seines Sohnes Jesus Christus, unseres Herrn.“ Amen.

Prof. Dr. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte

Jahreslosung 2020

Ich glaube; hilf meinem Unglauben! (Mk 9,24)

Wie passen diese beiden Worte: Glaube und Unglaube in einen Satz? Ist das eine nicht das Gegenteil vom anderen? Geht beides gleichzeitig: glauben und nicht glauben?
Und darf das überhaupt sein?

„Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Das ist hier das Gebet eines verzweifelten Vaters. Es ist sein Gebet um Hilfe für sein Kind in einer aussichtslosen Situation. Wie oft hatte er schon gebetet und gehofft? Wie oft hatte er Gott schon angefleht um Hilfe? Jedes Mal, wenn sein Sohn einen epileptischen Anfall erlitt, war es das Erste was er tat: beten. Umsonst. Jetzt hatte er die Jünger Jesu gebeten, ihm zu helfen. Doch sie konnten es nicht. Und darüber geraten sie auch noch mit den Schriftgelehrten in einen Streit. Verworrener und unangenehmer kann die Situation gar nicht mehr werden: Mit dem kranken Kind Mittelpunkt eines Streits zu sein. Jesus kommt dazu und fragt nach der Ursache des Streits. Der Vater löst sich aus der Menge und wendet sich an ihn, erzählt ihm von der Krankheit seines Sohnes. Jesus wird aufmerksam, fragt nach. Der Vater erzählt. Sein ganzes Leben lang leidet der Junge schon an den unkontrollierten Anfällen. Er fällt plötzlich hin, manchmal sogar ins Feuer oder ins Wasser. Die Angst um das Kind ist für den Vater eine ständige Begleiterin. „Wenn Du es kannst, erbarme Dich und hilf uns“, schließt der Vater seinen Bericht. Jesus antwortet: „Du sagst, wenn Du kannst! Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Das sagt Jesus in gewisser Weise auch zu den Jüngern. Sie waren mit ihm unterwegs, kannten ihn, haben erlebt wie er sich Menschen zuwendet und sie gesund werden. Die Jünger haben von ihm gelernt und in seinem Namen auch schon geheilt. Und doch waren sie diesmal dazu nicht in der Lage. Ihnen fehlte der Glaube. Ungläubig werden sie von Jesus genannt.

„Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Das sagt Jesus auch dem Vater. Damit eröffnet er ihm neue Perspektiven. Nicht die Heilkunst der Jünger oder des Meisters sind ausschlaggebend für die Heilung. Der Glaube macht es möglich. Hoffnung kommt auf und zugleich nimmt der Vater deutlich eine Grenze wahr: Wenn der eigene Glaube es möglich machen soll – kann das gehen? Reicht der eigene Glaube denn? Der Vater weiß um seine menschlichen Grenzen, weiß um die Grenzen seines Glaubens. So oft hatte er ja schon erlebt, dass keine Hilfe möglich war, trotz seiner Hoffnung auf Heilung, trotz seines Glaubens. Er weiß um Beides: seinen Glauben und zugleich seinen Unglauben. Im Gegensatz zu den Jüngern, die die Heilung des Jungen versucht haben und doch gescheitert sind. Was unterscheidet den Unglauben der Jünger vom Unglauben des Vaters? Vielleicht nur, dass der Vater seinen Unglauben mit in sein Gebet einschließt.? „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ Das kann auch als ein „Bekenntnis“, dass die Heilung vom Gott ausgeht und nicht von Heilkunst oder von Qualität und Form des Gebets, verstanden werden. Der Vater hat die Erfahrung gemacht, dass nichts geholfen hat. Nach so einer Erfahrung ist ein Gebet wie dieses oft das einzig mögliche Gebet und eine sehr ehrliche Reaktion auf die Verheißung Jesu: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“.

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

2019

Dezember 2019

Wer im Dunkel lebt und wem kein Licht leuchtet, der vertraue auf den Namen des Herrn und verlasse sich auf seinen Gott. (Jes 50,10)

Der Dezember ist der dunkelste Monat im Jahr. Es ist Nacht, wenn wir morgens aus dem Haus gehen und auch, wenn wir spätnachmittags nach Hause kommen. Das kann auf das Gemüt drücken. Dagegen hilft vielleicht eine Lichttherapie; im Winter noch dunkleren Skandinavien werden dafür ganze Räume und Hallen besonders erleuchtet, wo man sich im sonnenähnlichen Licht seelisch erholen kann – von der Dunkelheit draußen. Gegen das fehlende äußere Licht kann man also etwas tun. Aber was machen wir, wenn es um unsere Seele immer finsterer wird oder in unserer Gesellschaft und Welt?

Der Rat des Propheten ist es, auf den Namen des Herrn zu vertrauen und sich auf seinen Gott zu verlassen. Das sagt er zu seinen Landsleuten, die weit weg von Jerusalem in ihrem Exil in Babylon verzweifeln; das sagt er auch zu sich, wenn er von eben diesen Landsleuten verspottet wird, weil er glaubt, dass der Gott Israels immer noch im Regiment sitzt, dass Gott vergeben hat und es Hoffnung auf Rückkehr gibt.

Genau das beunruhigt auch uns so sehr, wenn wir den Eindruck haben, dass es Gott gar nicht gibt oder dass er sich für uns „null“ interessiert. Manchmal empfinden wir unser Leben wie ein Herumstochern im dichten Nebel, ohne Orientierung und Klarheit. Wir fühlen uns überfordert, oft so allein, vielleicht sogar mitten in Ehe und Familie. Wir sind andauernd müde und wollen angesichts des dunklen Alltags lieber die Augen schließen und in eine hoffentlich helle Traumwelt eintauchen.

Da tritt der Prophet an unsere Seite und ruft uns zu: „Du bist nicht allein. Du bist nicht verloren in der Finsternis. Gott ist da, an deiner Seite. Er sieht dich und er liebt dich.“ Jetzt kommt alles darauf an, dass wir ihm glauben. Dass wir unser Leben, so müde und verzagt es auch sein mag, in die Hände Gottes fallen lassen, damit es in uns und um uns wieder hell wird. ER ist unser Bruder geworden. Sein Name ist „Immanuel“, „Gott mit uns“! Geboren in einem Stall in Bethlehem.

Prof. Dr. Michael Kißkalt
Rektor und Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie

November 2019

Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt. (Hi 19,25)

Das „aber“ am Beginn dieses Satzes lässt aufhorchen. Das Wort „aber“ stellt einen Gegensatz dar. Hiob widerspricht. So kennt man ihn: Hiob, der Rebell gegenüber Gott und seinen Freunden. Hiob, der leidenschaftliche Streiter gegen das ihm zu Unrecht zugefügte Leid. Doch wenn Hiob an dieser bestimmten Stelle „aber“ sagt, kommt noch etwas Anderes zum Vorschein, nämlich eine neue Perspektive: „Ich bin mit meinem Leid – trotz allem – nicht allein. Ich bin kein bedauerlicher Ausnahmefall. Wenn nur meine Geschichte aufgeschrieben würde, würde es jeder erkennen.“ Hiob steht exemplarisch für alle Menschen, die wie er unter dauerhaften, unerträglichen Schmerzen leiden. Und er steht dafür ein, dass mit diesem Leid noch nicht alles gesagt ist.

In dem Streit, den Hiob mit Gott und seinen Freunden führt, beginnt er etwas Neues zu sehen. Auf seinem Weg bricht sich Hoffnung Bahn. Es ist ein Weg, der das Leid, die Not und das Elend des Einzelnen und der Welt in einem anderen Licht erscheinen lässt. Freilich nicht in einem Licht, das einem Schalter gleich einfach angeknipst wird, sondern das sich immer wieder erst hartnäckig – mit einem „aber“ – gegen das Dunkel wehren und durchsetzen muss.

Hiob weiß, dass er in Gott trotz allem einen Fürsprecher, einen „Erlöser“ hat – auch wenn Gott ihm in seiner jetzigen Situation bloß als willkürlicher Zerstörer seines Lebens erscheint. Hiob vertraut fest darauf, dass er diese erlösende Seite Gottes eines Tages „sehen“ wird, selbst wenn er jetzt und bis dahin, wie er sagt, nur noch aus Haut und Knochen besteht. Gott wird ihm nicht mehr als Fremder, sondern als Freund und Retter erscheinen. Wie das? Indem Hiob die Welt aus Gottes Sicht und nicht nur aus seiner eigenen Sicht sehen lernt. Indem Hiob im Sehen Gottes etwas Lebendiges wahrnimmt, das ihm selbst dann nicht entrissen werden kann, wenn ihm alles sonst Lebensnotwenige genommen wurde. In diesem „Sehen“ Gottes liegt das Geheimnis von Erlösung. 

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

Oktober 2019

Nach deinem Vermögen gib Almosen; auch wenn du nur wenig hast, scheue dich nicht, wenig Almosen zu geben. (Tobit/Tobias 4,8)

Manche evangelische Christen werden den aktuellen Monatsspruch in ihrer Bibelausgabe vergeblich suchen, denn er entstammt dem Buch Tobit. Dieses gehört zu den späten Schriften des Alten Testaments, die Luther bei seiner Übersetzung der Hebräischen Bibel außen vorließ, weil sie ihm nur in griechischer Sprache vorlagen. In katholischen Bibelausgaben hingegen ist dieses Buch gemeinsam mit den anderen Spätschriften fester Bestandteil des Alten Testaments.

Die vorliegende Ermahnung zum Almosengeben gehört zu einer längeren Unterweisung, mit der der erblindete Tobit seinen Sohn Tobias auf eine weite Reise verabschiedet. Er gibt seinem Sohn als Vermächtnis die wesentlichen Regeln für ein Leben nach Gottes Willen mit auf den Weg, denn er selbst bereitet sich auf den Tod vor.

Tobit, der selber viele Taten der Barmherzigkeit getan hat, ermahnt Tobias dazu, den Bedürftigen stets etwas vom eigenen Hab und Gut abzugeben, unabhängig davon, ob ihm viel oder wenig Vermögen zur Verfügung steht. Entscheidend ist für ihn offenbar nicht, wie groß eine Gabe ist. Entscheidend ist, dass die Armen Unterstützung erfahren. Und von dieser Pflicht sind auch die nicht ausgenommen, die selbst wenig haben.

Wenn heute Multimilliardäre wie Bill Gates und Warren Buffett regelmäßig Milliarden für wohltätige Zwecke spenden, dann ist das nicht bedeutsamer als das sprichwörtlich gewordene „Scherflein“ der armen Witwe, die Jesus in Mk 12,41-44 dafür lobt, dass sie ihre letzten Pfennige weggibt. Gott sieht alle gnädig an, die bereit sind, zu teilen. Er schaut nicht darauf, ob eine Gabe groß oder klein ausfällt, sondern darauf, ob sie den Möglichkeiten derer entspricht, die etwas abgeben.

Für Gerechtigkeit zu sorgen und solidarisch die Bedürftigen zu unterstützen, ist in der Bibel keine Sonderpflicht für die Reichen. Das Wohlergehen der Armen ist eine Aufgabe, der sich alle gemeinsam zu stellen haben. Vor allem aber gilt dies für diejenigen, die nach dem Willen Gottes leben wollen. Weil Gott Gerechtigkeit und das Wohl der Armen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe sieht, sind Wohlhabende und Menschen mit kleinem Geldbeutel gemeinsam herausgefordert. Niemand muss sich schämen, weil er nur wenig geben kann. Aber es ist auch niemand davon ausgenommen, sich die Frage zu stellen, welches Engagement zur Armutsüberwindung angesichts der eigenen Lebenssituation eigentlich angemessen wäre, und dann danach zu handeln.

Prof. Dr. Ralf Dziewas
Prorektor und Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie an der Theologischen Hochschule Elsta

September 2019

Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? (Matthäus 16,26)

Die Welt gewinnen, das klingt sehr verlockend. Aber wie könnte das denn gehen, die Welt gewinnen? Was nimmt der Mensch da in den Blick? Was ist das Ziel seines Strebens? Gewinn von Besitz, von Ansehen, mehr Zustimmung durch andere Menschen, schnelles Erreichen von Karrierezielen? Oder möglichst viele verschiedene Länder bereisen, Erfüllung persönlicher Wünsche und Ziele, Optimierung des eigenen Körpers, Höchstzahl an Facebookfreunden und immer mehr Follower in den sozialen Medien?  

Immer mehr – immer besser – immer weiter. Darin kann der Mensch sich selbst verlieren und folgt so bald nicht mehr den eigenen Zielen, sondern findet sich wieder als ein Getriebener. Was auch immer das sein könnte, die Welt zu gewinnen, Jesus warnt vor Seelenschaden durch Weltgewinn. Es gilt zu überprüfen, was der Mensch in den Fokus seines Strebens stellt. Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sind aufgefordert, die Perspektive zu ändern. Was ist es wirklich wert, dass ich mein Streben, meine Sehnsucht darauf richte? Was will ich gewinnen und würde mir das guttun?
Über das, was der Mensch im Außen gewinnen kann, vergisst er oft den Blick nach innen zu richten. Jesus fordert auf, die eigene Seele nicht zu vergessen. Beschädigte Seelen durch Weltgewinn. Seelsorgerinnen und Seelsorger kennen solche Seelenschäden: Burnout – Einsamkeit – Überforderung – Konsumsucht – Sucht nach Selbstoptimierung und die kleinen Schwestern davon: Unzufriedenheit und Langeweile.

Wer ein Ziel in den Blick nimmt muss lernen, an den richtigen Stellen „Ja“ und „Nein“ zu sagen. Wer „Ja“ sagt zum Reich Gottes muss an anderen Stellen „Nein“ sagen zu dem eigenen Wunsch der Ich-Ausdehnung. Wie einer, der eine Perle findet und alles verkauft, um diese eine kostbare Perle zu erwerben. „Ja“ und „Nein“ sagen kann uns vor dem „zu viel“ schützen, auf das unsere Zeit einen Anspruch erhebt. Wer „Ja“ sagt zur Nachfolge Jesu muss „Nein“ sagen zur Verlockung des Weltgewinns, muss sich selbst mäßigen, ein gutes Maß finden für ein neues Verhältnis zu den alltäglichen Herausforderungen. Jesu Worte laden ein zur rechten Verhältnis-mäßigkeit, zu einer Mäßigung, um das rechte Verhältnis zur Welt und zur Seele zu finden. In diesem Sinne schützt die Nachfolge Jesu vor einem Schaden an der eigenen Seele: Seele heil statt Seelenschaden. Jesus fordert uns auf, die Perspektive zu ändern und ihm nachzufolgen. Eine Nachfolge, die dann in mancher Hinsicht Verlust bedeuten kann. Letztlich ist dieser Verlust im Horizont des Reiches Gottes aber ein Gewinn.

Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden. Matthäus 16, 24+25

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

August 2019

Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe (Mt 10,7 nach der Einheitsübersetzung).

Mit dieser Botschaft hatte Jesus seine 12 Jünger in die Dörfer und Städte Israels geschickt. Schon die Verkündigung von Johannes dem Täufer und von Jesus selbst begann mit den Worten: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ Was soll damit gesagt sein?

Wenn das Matthäusevangelium vom „Himmelreich“ spricht, dann meint es dasselbe, was in anderen Evangelien das „Gottesreich“ heißt. Es meint die Herrschaft Gottes über die gesamte Welt, ein Reich des Friedens, der Gerechtigkeit und der Liebe. Damit dieses Reich kommen kann, muss Gott zuvor Gericht halten über allen Hass, alle todbringende Gewalt und alle Ungerechtigkeit, deren Ursprung im menschlichen Herzen liegt. Mit dem Himmelreich ist also auch das Gericht nahe. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, sich darauf vorzubereiten. Handelt jetzt, rufen Jesus und seine Jünger! Kehrt von euren bösen Wegen um! Wenn ihr das tut, werdet ihr Anteil erhalten an allen Gütern des kommenden Reichs. Schiebt die Umkehr nicht auf, damit es nicht plötzlich zu spät ist! Weder Johannes der Täufer noch Jesus und seine Jünger haben ein Datum genannt, an dem die Weltenwende eintreten wird. Aber sie wussten und sagten: Sie ist so nahe, dass sie jetzt eine Entscheidung von uns fordert.

Seither sind rund 2.000 Jahre vergangen. Das angekündigte Himmelreich auf Erden ist noch nicht gekommen. Können wir die Botschaft von damals trotzdem noch weitertragen und auch heute noch sagen: „Das Himmelreich ist nahe“? Wir sollten bei solchen Fragen auf jeden Fall bedenken, dass das Himmelreich in bestimmter Hinsicht tatsächlich schon gekommen ist. Mit der Auferstehung und Himmelfahrt von Jesus Christus ist es angebrochen, ebenso mit dem Gericht, das sich durch die christliche Verkündigung bereits an den Menschen vollzieht, und mit dem ewigen Leben, das für die Christusgläubigen schon jetzt und hier beginnt. Ja, das Himmelreich hat schon begonnen, es ist aber noch nicht vollendet. Wir warten noch auf die sichtbare Wiederkehr Jesu Christi, durch die Gottes Herrschaft sich überall durchsetzen wird. Damit wir darauf vorbereitet sind, heißt es auch heute: Kehrt um und schiebt es nicht auf! Denn das Himmelreich ist nahe.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Juli 2019

Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. (Jakobus 1, 19)

Eine häufige Ursache zwischenmenschlicher Konflikte ist fehlende oder unzureichende Kommunikation. Wir reden viel und reagieren schnell, meist nehmen Emotionen bereits vor der Beendigung einer Aussage überhand. Wir reagieren, bevor wir hören. In der Psychologie ist „aktives Zuhören“ ein eigenes Forschungsthema. Jemanden wirklich zuzuhören erfordert Aufmerksamkeit, Konzentration, Willen und Übung. Ein menschliches Grundbedürfnis ist es, gehört und gesehen zu werden.

Der Vers in Jakobus ist an die Christengemeinde Jesu gerichtet, Hintergrund des Briefes könnten Streitigkeiten und Missverständnisse der paulinischen Schriften innerhalb der Gemeinden gewesen sein. Der Vers steht unter der Überschrift „Hörer und Täter des Wortes“ und die nachfolgenden Verse verdeutlichen, dass auf das Hören des Wortes Taten zu folgen haben. Es geht um das Hören des Wortes Gottes und die eigene Reaktion darauf – die emotionale Reaktion und die Handlungsreaktion. „Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden und langsam zum Zorn“ beinhaltet zudem auch eine aktive Aufforderung, den Prozess des Zuhörens einzuüben und sich die Zeit und Stille dafür zu nehmen. Wer hören will, der kann nicht gleichzeitig reden. Wer hören will, der muss zunächst einmal still sein.

Das, was wir in der zwischenmenschlichen Kommunikation oftmals verpassen, wenn wir unseren Gegenüber nicht wirklich Zeit und Aufmerksamkeit schenken, um ihn zu hören und zu sehen, kann weitreichende Folgen mit sich bringen. Dinge, die nie so gesagt oder gemeint wurden und Dinge, die gesagt, aber nicht gehört wurden, schaffen emotionale Distanzierung, Isolation und Streitigkeiten. Wir sind darauf angewiesen, einander zu hören, wenn wir zwischenmenschliche Verbindungen schaffen wollen. Und noch viel mehr sind wir darauf angewiesen, das Wort zu hören, das uns Leben gibt und Handlungsanweisungen für ein gutes, lebensbejahendes Miteinander bereitstellt.

In Matthäus 13, 9-17 heißt es „Wer Ohren hat, der höre“ und „Wer Augen hat, der sehe“. Viele, die Ohren haben und viele, die Augen haben, hören und sehen dennoch nicht. Wer Ohren hat, der höre die frohe Botschaft des Evangeliums, wer Augen hat der sehe, dass da bereits etwas Großes und Gutes angebrochen ist, hier und jetzt, in unseren alltäglichen Lebensherausforderungen. Wir können die gute Nachricht des Evangeliums nur angemessen in unserem Reden, Tun und Handeln weitergeben, wenn wir uns vorher die Zeit genommen haben, sie zu hören und zu verstehen. Der Vers in Jakobus darf auch heute als eine Einladung, ein Hinweis und eine Aufforderung verstanden werden, sich die Zeit zu nehmen, Gottes Wort zu hören. Und er darf als eine Einladung und eine Erinnerung wahrgenommen werden, sich die Zeit zu nehmen, einander zu hören. Viele gute Dinge nehmen im Kleinen, Unscheinbaren ihren Anfang. Vielleicht ist das Zuhören einer dieser Anfänge, die Großes bewirken. Eine Entscheidung, in die es sich lohnt, Zeit und Energie zu investieren.

Dana Weiner

Juni 2019

Freundliche Reden sind Honigseim, süß für die Seele und heilsam für die Glieder. (Spr 16,24 (L) )

„Das geht runter wie Öl“, sagen wir, wenn wir ein Lob bekommen, von dem wir vielleicht selbst ein wenig überrascht sind. Genau wie das Öl stand der Honig im alten Israel für das Angenehme und Wohltuende. Honig wurde als Süßungsmittel verwendet, alternativ nahmen man eingedickten Saft aus Datteln. Das Bild vom Honig verdeutlich, dass gute Worte nicht bloß im Kopf ankommen, sondern dem ganzen Körper guttun, genauso wie böse Worte tatsächlich Schmerz verursachen, so als bekäme man einen „Schlag in die Magengrube“.

Doch mit den „süßen“ Worten ist das so eine Sache. Auch davon zeugen Redensarten. Wer dem anderen „Honig um den Bart schmiert“, hegt undurchsichtige Absichten. Worte können süß und angenehm sein, aber im Nachhinein „bitter aufstoßen“, wenn sich herausstellt, dass man enttäuscht wurde (siehe Sprüche 5,3-6). Das Süße ist also nicht immer gleich gut, es braucht Kriterien, um gute von schlechter Süße unterscheiden zu können.

Den passenden Maßstab finden die biblischen Schreiber in der göttlichen, und daher vollkommenen Tora. Ihre Worte sind sogar noch süßer als Honig (Psalm 19,11), praktisch sind sie der Inbegriff von Süße. Wer die Tora studiert, lernt also auf angenehme Weise das Gute. Bibellesen finden wir allerdings teilweise sehr mühsam und anstrengend. Vieles – in den Gesetzen oder prophetischen Schriften des Alten Testaments – rutscht uns nicht so „glatt“ die Kehle herunter. Doch sollten wir nicht zu schnell aufgeben, denn der Geschmack kommt bekanntlich beim Essen. Der Prophet Ezechiel wird von einer göttlichen Gestalt aufgefordert, eine Schriftrolle zu essen, die lauter Anklagen an das Haus Israel enthält (Ezechiel 2,9-3,1). Doch während des Essens werden dem Propheten die bitter erscheinenden Worte im Mund „süß wie Honig“ (3,2-3).

Bibellesen kann also das Leben verändern. Es zeigt, dass es darauf ankommt, zu unterscheiden, wann man wem etwas Bestimmtes sagt und wie. Sei es ein Lob, oder auch mal eine Rückmeldung, die dem anderen im ersten Moment nicht „schmeckt“, sich aber dann doch positiv auf die Beziehung auswirkt, weil sie ehrlich war. Dem anderen etwas zumuten, aber so, dass er oder sie es für sich annehmen kann – das ist zwar eine Kunst, darauf liegt aber auch eine Verheißung.   

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

Mai 2019

Es ist keiner wie du, und ist kein Gott außer dir. (2. Samuel 7,22)

Mit dem Bekenntnis zur Einheit Gottes gab sich König David, der diesen Satz in einem Gebet aussprach, als einer der religiösen Nonkonformisten seiner Zeit zu erkennen. Dass „alles voller Götter“ sei, war bei allen anderen Völkern ringsherum allgemeiner Grundkonsens. Uns erscheint dagegen die Alternative „Es gibt entweder einen einzigen Gott oder gar keinen“ so selbstverständlich, dass uns die Kühnheit des Bekenntnisses zu einem einzigen Gott gar nicht mehr auffällt. Echte Heiden gibt es längst nicht mehr, selbst die heutigen Atheisten sind „A mono theisten“, Leugner des einen Gottes. Vielleicht kann man noch bei Reisen in ferne Länder Menschen beobachten, deren Leben von Furcht vor dem Zorn und von Hoffnung auf die Gunst von Göttern bestimmt ist. Aber ansonsten ist die Welt, in der wir leben, götterlos.

Dabei sind uns die Mächte, die beispielsweise die Griechen des Altertums in ihren Tempeln verehrten, keineswegs gleichgültig: Asklepios, der Gott der Gesundheit, Hera, die Göttin des Familienlebens, Plutos, der Gott des Reichtums, Aphrodite, die Göttin der Schönheit und Liebe, Dionysos, der Party-Gott, Demeter, die Göttin der Nahrung, Apoll, der Gott der Musik, Athene, die Göttin der Technologie, Ares, der Militärgott. „Es ist keiner wie du“, sagt David: Keine dieser Gottheiten ist wie der eine wahre Gott, und auch alle zusammen sind es nicht. Dass es nur einen Gott gibt, bedeutet nicht, anstelle der vielen Götter einen einzigen Multifunktionsgott zu verehren, dessen Aufgabe die Erfüllung aller unserer Wünsche und Sehnsüchte ist. Das wäre ein monotheistisches Reform-Heidentum, aber nicht Glaube an den wahren einen Gott.

In seiner Auslegung des ersten Gebots erklärt Martin Luther, was es heißt, keine anderen Götter zu haben. Mancher hat, so Luther (etwas zusammengefasst), „einen Gott, der heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herz setzt, welches auch der allergewöhnlichste Abgott ist auf Erden. Also auch, wer darauf traut und trotzt, dass er große Fähigkeiten, Klugheit, Macht, Beliebtheit, Freundschaft und Ehre hat, der hat auch einen Gott, aber nicht den wahren, einen Gott. Das siehst du daran, wie vermessen, sicher und stolz man ist auf solche Güter, und wie verzagt, wenn sie nicht vorhanden oder entzogen werden. Denn einen Gott haben, heißt, etwas haben, worauf das Herz gänzlich traut.“ Allein auf Gott zu vertrauen und sich von ihm in die Freiheit von den Abgöttern unseres Herzens führen zu lassen, darauf kommt es an.

Prof. Dr. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte

April 2019

Jesus Christus spricht: Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. (Mt 28,20)

Es ist die Summe des Evangeliums, die in dem kurzen Satz aufleuchtet: Ich bin bei euch alle Tage. In äußerster Konzentration fasst Jesus am Ende des Matthäusevangeliums zusammen, wofür er gelebt hat und wofür er gestorben ist. Denn dies war und ist seine Botschaft: Dass der ewige Gott nicht ohne uns Menschen Gott sein will. Dass er als Vater im Himmel auch als Vater auf Erden an unserer Seite ist. Und dass darum der von ihm gesandte Sohn nicht nur zur Geburt den schönen Namen „Immanuel“ erhält, sondern als der „Gott-mit-uns“ bis zum Ende der Welt für uns da ist. Wie ist Jesus Christus bei uns? Es kann ja auch anstrengend und bedrückend sein, jemand alle Tage an seiner Seite zu haben. Die Begleitung durch den auferstandenen Christus jedoch ist keine Fessel. Sie ist sanft. Sie berührt, ohne zu bedrängen. Sie engt nicht ein, sondern öffnet Lebensräume. Sie lässt die Freiheit nicht verkümmern, sondern wachsen. Christlicher Glaube reimt sich darum stets auf Freiheit und nicht auf Zwang. Wann ist Jesus Christus bei uns? In guten wie in bösen Tagen. In guten Tagen, an denen wir fröhlich sein Wort hören, bezeugen und auch tun. Dann, wenn wir voller Schwung in Liebe und Sorgfalt uns selbst, unseren Mitmenschen und dieser ganzen Schöpfung Gutes tun. Aber auch in bösen Tagen steht Christus uns zur Seite. Wenn uns die Kraft verlässt und wir am Ende sind. Wenn uns nicht nur die Taten, sondern auch die Worte ausgehen. Wenn wir nur noch die Hände ringen können im Angesicht von Versagen und Verlust, von Krankheit und von Todesnot. Dass Gott auch dann der Gott-mit-uns ist, ist das Geheimnis des Kreuzes von Golgatha. Hier hat der Sohn Gottes sich selbst der tiefsten Gottverlassenheit ausgesetzt, um in allen Abgründen unseres Lebens und noch im Sterben bei uns zu sein. „Bis an der Welt Ende.“ Und dann? Dann kommt Christus endgültig aller Welt mit seinem ewigen Leben entgegen. Dann sind wir sichtbar und für immer bei ihm: in der unmittelbaren und universalen Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott.

Prof. Dr. Volker Spangenberg
Professor für Praktische Theologie

März 2019

Wendet euer Herz wieder dem Herrn zu und dient ihm allein. (1 Sam 7,3)

Dass man irgendwie an Gott glaubt, ist kein Problem. Auch die Israeliten damals glaubten an Gott. Aber daneben verehrten sie noch andere Götter; sicher ist sicher. Der HERR, der Gott ihrer Väter, war ihnen wichtig; aber kann er sich wirklich um alles in ihrem Leben kümmern? Besser war es, auch die Göttin der Fruchtbarkeit zu verehren, die einigen Familien unter ihnen ganz tolle Ernteerträge bringt. Der Prophet Samuel ermahnt nun die Israeliten, alle anderen Götter zur Seite zu tun und allein den HERRN anzubeten und ihn zur allein bestimmenden Kraft ihres Lebens zu machen.

Aus unserer heutigen Perspektive mögen diese Geschichten weit weg von unserer Lebenswirklichkeit sein. Aber dieser Eindruck trügt. Als Menschen stehen wir immer wieder vor der Frage, welche Mächte unser Leben bestimmen. Wir mögen uns autonom geben, als ob wir selber bestimmen, was wir warum tun oder lassen. Und doch zerren viele Kräfte an uns. Welcher Kraft geben wir nach? Viele Stimmen flüstern in unser Ohr und wollen uns die Richtung weisen. Auf welche Stimme hören wir? Oft entwickeln wir in uns eine Hierarchie, welche Stimmen uns stärker bestimmen und welche weniger. Je nach Situation oder Herausforderung stellen wir dann das eine oder das andere mehr in den Vordergrund, je nach Vorteilslage. Einmal lassen wir unser Handeln von unserem christlichen Glauben dominieren, ein andermal bestimmt uns zum Beispiel das Bedürfnis, noch wohlhabender zu werden, auch wenn unser Verhalten oder Lebensstil dann christlichen Werten widerspricht.

Der Prophet mahnt uns, unser ganzes Leben, all unser Denken und Handeln, von unserem Glauben an Gott bestimmen zu lassen. Und in diesem Sinne umzukehren: die anderen Götter in unserem Leben zu entlarven und uns willentlich von ihnen abzuwenden, um uns allein dem Gott Israels, dem Vater Jesu Christi, zuzuwenden. Das ist nämlich das Besondere an Gott, „dem HERRn“, dass er uns in Jesus Christus sein Herz gezeigt hat: voller Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Wenn wir uns IHM ganz unterstellen, dann werden wir von diesen Werten so erfüllt, dass sie unser alltägliches Handeln bestimmen, sowohl in der Gemeinschaft der Christen als auch in Schule, Studium oder Beruf. Dann kann man sich nicht in einem Bereich christlich verhalten und in einem anderen nicht, sondern Gottes Herzschlag wird zu unserem: Liebe und Gerechtigkeit werden für uns immer und überall bestimmend.

Prof. Dr. Michael Kißkalt
Rektor und Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie

Februar 2019

Ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. (Röm 8,18)

Auf den ersten Blick wirkt dieser Vers wie eine Vertröstung auf das Jenseits: Ist doch egal, wie schwer dieses Leben ist, das Entscheidende kommt ja erst noch. Ist doch egal, ob es in dieser Welt Gerechtigkeit gibt, oder nicht. In der ewigen Herrlichkeit werden die Benachteiligten zu ihrem Recht kommen.
Der Gesamtzusammenhang aber lässt diesen Vers in einem anderen Licht erscheinen, denn im zentralen 8. Kapitel seines Briefes an die Gemeinde in Rom geht es Paulus um die unüberwindliche Liebe und Treue Gottes. Paulus will auf eine Kernaussage hinaus: Nichts, aber auch gar nicht, kann uns trennen von der Liebe Gottes (V.38+39). Und aus diesem Blickwinkel heraus gibt Paulus dem derzeitigen Leiden der Menschen eine andere Bedeutung.

Die ganze Schöpfung seufzt unter ihrer Vergänglichkeit. Aber sie fügt sich nicht in ihr Leiden. Sie erwartet stattdessen sehnsüchtig die Befreiung von Leid und Tod. Und Gott hat den Menschen seinen Geist gegeben, damit sie schon jetzt erkennen können, dass die Vollendung der Welt bereits angebrochen ist, so wie sich bei einer Geburt das neue Leben mit dem Einsetzen der Wehen ankündigt (V.19-23).
Für Paulus steht die Menschheit deshalb in einer Leidensgemeinschaft mit allen anderen Geschöpfen, weil die an Gott Glaubenden stellvertretend für die gesamte Schöpfung die Hoffnung nicht aufgeben sollen, dass sich am Ende die Liebe Gottes durchsetzt und die gesamte Kreatur von Tod und Leiden befreit wird. Und wenn bis dahin Geduld im Leiden notwendig ist, dann um dieser Hoffnung für die Welt willen (V.24-25). Die Kraft für diese Hoffnung aber gewinnt Paulus aus der Gewissheit, dass das Seufzen der Schöpfung bei Gott nicht belanglos ist, sondern Gehör findet, weil der Heilige Geist die Bitten der Verzagten vor Gott so zur Sprache bringt, dass sie erhört werden müssen (V.26-27).

Am Ende werden weder das Leiden noch der Tod das letzte Wort haben, sondern die Herrlichkeit der Liebe Gottes. Gottes Herrlichkeit als Ziel der gesamten Schöpfung wird nichts und niemand aufhalten können, weil Gott in seiner Treue am Ende alle Vergänglichkeit und alles Leiden überwinden wird (V.29-39).

Prof. Dr. Ralf Dziewas
Prorektor und Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Januar 2019

Gott spricht: Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde. (Gen 9,13 [Luther])

An was denken Sie, wenn Sie einen Regenbogen sehen?

Ein Regenbogen, ein buntes Zeichen mitten am Himmel. Einmal zieht sich ein kompletter Bogen von einem Ort der Erde durch den Himmel zu einem anderen Ort. Ein anderes Mal scheint der Bogen selbst die Verbindung zwischen Himmel und Erde zu sein.

Ein Regenbogen kann ein Symbol für Vieles sein: Er kann für die Versöhnung zwischen Menschen stehen. Oder dafür, dass die Sonne wieder lacht nach anstrengenden Regentagen, also dass es nach Krisenzeiten auch wieder fröhliche Zeiten geben kann. Er kann dafür stehen, dass wir Menschen so verschieden sind, diverse Haltungen und Einstellungen haben. Er steht unter anderem auch für die „Regenbogennation“ Südafrika: eine Bevölkerung aus vielen verschiedenen Ursprüngen und doch eine Nation. Der Regenbogen, ein Symbol für eine gute Verbindung verschiedenster Menschen.

Nach Genesis 9 symbolisiert der Regenbogen die Verbindung Gottes mit den Menschen. Gott selbst hat ein buntes Zeichen gesetzt. Er spricht den Menschen zu, dass er es gut mit ihnen meint. Er will sie nicht vernichten. Er schafft ihnen Lebensraum. Gott verbindet sich noch einmal neu mit seiner Schöpfung: Mensch und Tier und Erde. Die Verschiedenheit der Menschen, die Vielfalt der Schöpfung spiegelt den Reichtum, der in Gott ist. Der Mensch, geschaffen nach Gottes Ebenbild – eine bunte Menschheit. Die farbenreiche Schöpfung – ein Abbild der Kreativität Gottes.

Auch im Lob Gottes in der Gemeinde spiegelt sich diese Vielfalt. Junge und alte Menschen, Frauen und Männer, Menschen verschiedener Herkunft, Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen und Meinungen, Wünschen, Träumen und Hoffnungen kommen zusammen, um gemeinsam Gott zu loben. Ein buntes Zeichen dafür, dass durch Christus versöhnte Verschiedenheit möglich ist. Es gibt eine realistische Hoffnung auf versöhnte Verschiedenheit. Eine heilsame Hoffnung für diese Welt. Ein buntes Zeichen Gottes.

An was denken Sie, wenn Sie einen Regenbogen sehen?

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

Jahreslosung 2019

Suche Frieden und jage ihm nach. (Psalm 34,15)

Frieden ist nicht selbstverständlich. Wo Menschen in Frieden leben, da ist er stets bedroht. Die Ruhe des Friedens hat es schwer gegen den Lärm des Streites. Unfrieden oder gar Krieg können Menschen so unerträglich bedrohen, dass sie fliehen und alles zurücklassen müssen. Sie haben dann nur ein einziges Ziel: Das Leben in einem friedlichen Land unter Menschen, die ihnen mit Respekt und Gewaltfreiheit begegnen. Für die biblischen Texte ist Frieden dabei viel mehr als die menschliche Leistung zum guten Miteinander. Der Gedankengang des Psalmisten setzt mit einem viel grundsätzlicheren Aufruf ein (V. 12): „Kommt her, ihr Kinder, höret mir zu! Ich will euch die Furcht des Herrn lehren.“ Alles beginnt damit, Gott als Herrn anzuerkennen. Wie in den Zehn Geboten liegt das Fundament für die folgenden Anweisungen gleich am Anfang: „Ich bin der Herr, dein Gott.“ Alles Weitere folgt daraus.
Im Alten Testament steht der hebräische Begriff Schalom zunächst einmal für die Unversehrtheit von Menschen. Der Gegensatz zu allen Leib und Leben bedrohenden Gewalttaten tritt deutlich hervor. Zugleich geht es dabei um gute zwischenmenschliche Beziehungen. Der so verstandene Schalom ist nicht ein Werk von Menschen, sondern eine Gabe Gottes. Dies kommt im Psalmvers sehr schön zum Ausdruck. Denn hier steht nicht: „Schaffe Frieden und bewahre ihn“, sondern es geht darum, den Schalom als Geschenk Gottes zu suchen und ihm nachzujagen. Im Gegenzug können wir Menschen einander den Frieden Gottes wünschen, wie es etwa mit Schalom als Grußformel oder im Segen „Friede sei mit dir“ zum Ausdruck kommt. Der Schalom Gottes als Zeit und Raum von Heil und Frieden verweist auf die Zukunft, in der auch der Psalmist das vollständige Friedensreich Gottes erwartet, das die Menschheit mitsamt Tier- und Pflanzenwelt umfassen wird. Die Suche und die Jagd nach Gottes Frieden setzen sich im Neuen Testament fort. So schreibt der Apostel Paulus: „So lasst uns nun dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander“ (Röm 14,19). Auch für Paulus geht es dabei nicht nur um ein „seid nett zueinander“. Das wäre viel zu klein gedacht. Sondern die Suche nach Frieden ist letztlich die Suche nach Gott selbst. Der Herr selbst ist „der Gott der Liebe und des Friedens“ (2Kor 13,11). Jesus Christus kommt als Liebe und Frieden in diese Welt (Lk 2,14). In ihm hat Gott sich am Kreuz mit uns versöhnt. Indem Christen und Christinnen davon weitersagen, heißen sie Gottes Reich schon in dieser Welt willkommen. Sie laden andere in den Friedensraum Gottes ein und werden als Friedensstifter selbst Kinder Gottes genannt (Mt 5,9). „Suche Frieden und jage ihm nach,“ – das ist mehr als ein guter Vorsatz für das neue Jahr, sondern die Ausrichtung des ganzen Lebens von Gott her und auf Gott hin.

Prof. Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament

2018

Dezember 2018

Als sie den Stern sahen, wurden sie hoch erfreut (Matthäus 2,10)

Ich freue mich, wenn ich nachts über dem Lichternebel von Berlin überhaupt ein paar Sterne sehen kann. Aber nur selten habe ich die Gelegenheit, den Sternenhimmel in seiner ganzen Großartigkeit zu betrachten, an einem Ort ohne störendes künstliches Licht und bei klarem Wetter. Und selbst dann sehe ich eigentlich nur wenig, denn ich weiß die Gestirne und ihre Formationen nicht zu unterscheiden. Das war in den Zeiten, als die Texte der Bibel entstanden, noch anders. Selbst einfache Bauern und Fischer kannten sich am Sternenhimmel gut aus. Sie konnten an den Sternen ablesen, wann die rechte Zeit für die Aussaat kommt oder wie man ein Boot wieder ans Ufer steuert. Die Erfahrung lehrte, dass man sich als Landwirt oder Seefahrer auf die Sterne verlassen konnte. Daher war es im Altertum ganz selbstverständlich, dass die Gelehrten über den Einfluss der Gestirne auf das menschliche Leben spekulierten oder gar die Zukunft anhand von Sternbeobachtungen vorhersagen wollten.

Eine Ausnahme war in dieser Hinsicht das Volk Israel. Mose und die Propheten verurteilten die „Meister des Himmelslaufs und die Sterngucker“ ebenso wie allerlei anderen Aberglauben, der die Menschen unfrei machte durch grundlose Ängste oder trügerische Hoffnungen. Die Beobachtung von Sonne, Mond und Sternen sei zwar nützlich zur Zeitmessung, heißt es in der Bibel, aber die Gestirne zu fürchten oder auf sie zu hoffen, sei Torheit und ein „Greuel vor dem Herrn“. Die kritische – und das heißt vor allem: die selbstkritische! – Unterscheidung zwischen dem Glauben an den einen wahren Gott und den vielfältigen Formen von Aberglauben, Götzendienst und falscher Religion gehört zu den zentralen Themen der Bibel und damit auch des Christentums.

Und dann tauchen auf den ersten Seiten des Neuen Testaments, am Beginn der Geschichte von Jesus, genau solche Leute auf, vor denen Mose und die Propheten immer gewarnt haben. Dass es drei heilige Könige gewesen seien, ist bekanntlich eine spätere Legende. Im Text ist die Rede von „Weisen“ oder wörtlich von „Magiern“ aus dem Orient, jedenfalls nicht von Heiligen, sondern von Heiden, die an die Macht der Sterne glauben. Die Frommen wussten, dass das Leute sind, von denen man sich fernhalten muss. Aber ohne zu wissen, was sie da redeten, sagten ausgerechnet diese Fremden etwas, das die Frommen aufhören ließ. Die Frommen wussten ja, dass das Kommen des Messias mit den Worten verheißen ist: „Es wird ein Stern aus Jakob aufgehen“ (4.Mose 24,17). Und ohne zu wissen, was sie da eigentlich taten, taten die Fremden das Richtige, als sie dem Kind mehr Ehre erwiesen, als man einem Menschen je erweisen darf: Als sie es fanden, fielen sie vor ihm nieder und beteten es an.

Die irritierende Geschichte von Weisen aus dem Morgenland ist die erste von den vielen Geschichten im Neuen Testament, die davon handeln, wie Menschen, von denen die Frommen es nicht erwarten, den Weg zu Jesus finden. Wenn wir einen Stern sehen, können wir daran denken, dass solche Geschichten auch noch heute geschehen. Und uns mitfreuen.

Prof. Dr. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte

November 2018

Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, be-reitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann (Offenbarung 21,2).

Die Welt, wie wir sie kennen, wird einmal untergehen – aber nur um Platz zu machen für etwas ganz Neues und Wunderschönes. Vom neuen Himmel und der neuen Erde können wir mit unseren Erfahrungswerten uns keine rechte Vorstellung machen. Darum sprechen auch die Weissagungen der Bibel nur in Bildern davon, und selbst die erweisen sich als letztlich unzureichend.

Der Seher Johannes empfängt als Vision, dass eine Stadt aus dem Himmel herabkommt. Es ist die heilige Stadt Jerusalem. Aber nicht jene Stadt in den judäischen Bergen zwischen Mittelmeer und Totem Meer, die heute im Zentrum weltpolitischer Konflikte steht, sondern ihr himmlisches Ge-genstück, das neue Jerusalem. Diese heilige Stadt hat Gott im Himmel vorbereitet, um sie zur ge-gebenen Zeit auf die neue Erde herabzusenden. Dann folgt ein zweites Bild, das zum ersten gar nicht zu passen scheint: Die himmlische Stadt, sagt Johannes, ist vorbereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Mit diesem zweiten Bild greift er auf, was im Alten wie im Neuen Testament vom Volk Gottes gesagt wird: Das Volk Gottes ist die Braut, mit der Gott bzw. Jesus Christus sich vermählen will.

So verstehen wir nun auch, wer oder was das neue Jerusalem ist, nämlich die Schar der vollende-ten Erlösten, mit der Gott eine ewige, unauflösliche Liebesgemeinschaft eingegangen ist. Diese Schar wird die neue Erde füllen, und dazu wird sie jetzt im Himmel vorbereitet. Zur himmlischen Gemeinde gehören alle, die ihren Weg auf Erden im Glauben vollendet haben. Aber auch wir, die wir noch leben, gehören schon dazu, wenn auch in anderer Form. „Wir sind Bürger im Himmel“, sagt der Apostel Paulus (Phil. 3,20), und das wird einmal offenbar werden, wenn die vollendete Gemeinde vom Himmel herabkommt. Indem wir hier auf Erden Glauben halten, Liebe üben und Hoffnung bewahren, erhalten wir unser Erbteil im neuen Jerusalem und der neuen Welt.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Oktober 2018

Herr, all mein Sehnen liegt offen vor dir, mein Seufzen war dir nicht verborgen. (Psalm 38,10 EUE)

Dieses Stoßgebet könnte auch von Hiob stammen. Psalm 38 nämlich, in den dieser Satz eingebettet ist, nennt sämtliche körperlichen und seelischen Leiden, die man sich vorstellen kann: Von eiternden Wunden ist die Rede (V. 6), von Schmerzen (V. 18), Trauer (V. 7), Taubheit und Verstummen (V. 14), ja der gesamte Leib sei krank (V. 4). Mit dem Schicksal Hiobs verbindet sich das Problem der Sünde, das in diesem Psalm ebenfalls angesprochen wird (V.4-5.19). Wie hängt beides zusammen, Krankheit und Sünde? Kann, soll, darf es da überhaupt einen Zusammenhang geben? Einige Bibelausleger sind der Meinung, die in diesem Gebet genannten Schmerzen seien nur symbolisch zu verstehen. Die Beterin leide nicht an einer Krankheit, sondern an ihrer Schuld. Folglich gehe es in dem Psalm nicht um Heilung im wörtlichen Sinn, sondern um Vergebung.

Dabei ging man im Alten Israel grundsätzlich davon aus, dass Krankheit ein Symptom von Sünde sei. Aus heutiger Sicht erscheint dies freilich zu einseitig. Aber das Thema Schuld ist eine (mögliche) Antwort auf die Frage, die sich jeder Kranke – auch im 21. Jahrhundert – unweigerlich stellt: „Warum? Warum ich? Wer hat Schuld? Ich selbst oder jemand anderes?“ Um genau diese Fragen geht es in Psalm 38 (wie im Hiobbuch).

Die gut gemeinte Haltung – die Frage nach der Schuld auszuklammern – kann fatale Folgen haben: Wer krank und elend ist, bleibt mit existentiellen Fragen allein. Angehörige und Freunde schweigen sich aus, haben Angst, fühlen sich „überfordert“, wollen sich selber „schützen“. Genau der Effekt, über den der Beter in Ps 38 klagt (V. 12). Wenn niemand bereit ist, sich auf die Geschichte eines betroffenen Menschen einzulassen, bleibt für ihn oft nur eine Schlussfolgerung: „Ich bin schuld“ (V 4). Und wenn er sich irrt?

Warum wird man krank? Auf diese Frage gibt es meist keine eindeutige Antwort, aber ein hilfreiches Mittel: Zuhören. Darum setzt die Beterin ihre ganze Hoffnung auf Gott, der das Verborgene sieht (siehe Matthäus 6,6). „Herr, all mein Sehnen liegt offen vor dir, mein Seufzen war dir nicht verborgen“ (V. 10). Gott möge einstehen, beistehen und erretten (V. 23). An Leib, Seele und Geist. Gut, wenn Kranke in ihrer äußeren und inneren Not nicht allein bleiben, sondern gemeinsam mit anderen Menschen ihre Sehnsucht vor Gott zum Ausdruck bringen.

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

September 2018

Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende.
(Prediger 3, 11)


Mitten im Leben

Alles hat seine Zeit: geboren werden und sterben ... abbrechen und bauen ... weinen und lachen ... umarmen und loslassen (Prediger 3, 1-8). Gott hat dem Menschen aber nicht nur die Zeit und damit die Vergänglichkeit zugemutet, er hat ihm auch eine Sehnsucht ins Herz gelegt, die über alles Zeitliche, Sichtbare und Vergängliche hinausgeht.

Der Mensch möchte wissen, erforschen und erfahren was das Ganze ist. Dahinter schauen, darüber hinausgehen, in die Weite und die Tiefe blicken, jedes Detail kennen lernen. Wissen woher alles kommt und wohin alles geht. So ist der Mensch: immer suchend, immer unterwegs. Angekommen ist der Mensch erst, wenn er seinen Platz akzeptiert. Wenn er seine Grenzen kennt, wenn er begreift, dass ihm seine Zeit geschenkt ist und er sie selber nicht in seiner Hand hält. Wenn er Anfang und Ende loslässt und sich mit der Mitte des Lebens begnügt. Dann kann Vertrauen wachsen zu dem, der Beides in seiner Hand hält: Zeit und Ewigkeit. Dann kann der Mensch ganz da sein und seine Zeit als ein Geschenk empfangen.

Hier und jetzt gilt es zu leben. Hier ist der Ort der Verantwortung. Jetzt ist die Zeit, das Leben zu gestalten und zu genießen. Und in Beidem, im Gestalten und Genießen kann auch ein wenig „Ewigkeit“ mitten in der Zeit Raum gewinnen. In Beidem kann sich der Mensch mit Gott, dem einzig Ewigen verbinden. Im Mitgestalten in dieser Welt und Zeit, in der Zuwendung zur Schöpfung und in der tätigen Liebe den Mitmenschen gegenüber, hat der Mensch Teil an Gottes Werk und Gottes Liebe. Er liebt mit Gott mit, Gott liebt durch ihn. Und auch im Genießen verbindet sich der Mensch mit Gott, indem er dankbar sein Leben mit seinen Möglichkeiten aus Gottes Hand nimmt: dankbar für Menschen, die uns durchs Leben begleiten; dankbar für Menschen, die uns unterstützen, wenn wir es brauchen; dankbar für die guten Dinge im Leben; dankbar für Brot und Wein und Menschen, die uns lieben. Indem wir unser Gestalten und Genießen mit Gott verbinden, gehen wir über unsere engen menschlichen Grenzen hinaus und erfahren „Ewigkeit“.

Dankbar können wir auch für durchlebte und überwundene Lebenskrisen sein. Gerade die Krisenzeiten unseres Lebens können Zeiten sein, in die ein Stück der Ewigkeit einbrechen kann, auch wenn es sich zunächst gar nicht danach anfühlt. Denn hier verbindet sich Gott mit uns. In Jesus Christus, der als Mensch gelebt und gelitten hat, zeigt Gott seine Solidarität mit menschlichem Leiden. Und durch Jesus Christus, der gestorben und wieder auferstanden ist, gibt es Hoffnung für jede noch so aussichtlose Situation. In dieser Hoffnung strahlt Ewigkeit in die Zeit. Nicht als ein billiger Trost auf bessere Zeiten, sondern als Kraft zur Veränderung.

Die Ewigkeit finden wir nicht am Anfang und am Ende aller Dinge – das ist uns nicht zugänglich. Die Ewigkeit können wir nur mitten im Leben finden, weil wir wissen, dass der, der Zeit und Ewigkeit in seiner Hand hält, alles in seiner Hand hält, auch uns.

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

August 2018

Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm.
(1. Joh 4,16)


Prägnanter lässt sich die Beziehung zwischen Gott und uns Menschen kaum auf den Punkt bringen. Wer in den Kontext schaut, entdeckt drei Liebesbewegungen. Die erste und für alles Weitere entscheidende Bewegung der Liebe vollzieht sich von Gott zu uns Menschen. In der Sendung seines Sohnes Jesus Christus wird Gottes Liebe unüberbietbar und ein für alle mal sichtbar (V. 9). Die Richtung der Liebe ist dabei wichtig: „nicht dass wir Gott geliebt haben, sondern dass er uns geliebt hat“ (V. 10). Jeder Versuch, dieses umzudrehen, ist zum Scheitern verurteilt. Wir Menschen können aus eigener Kraft Gott keine Liebe entgegenbringen. Das würde uns hoffnungslos überfordern. Er hat seinen Sohn zu unserer Versöhnung in die Welt gesandt, damit seine Liebe uns erreicht. Hoffnungsvoll wird unser Leben erst, wenn wir uns von Gottes Liebe beschenken lassen und wenn seine Liebe sich in unser Leben hinein ausbreitet. Die zweite Bewegung der Liebe folgt daraus: „Ihr Lieben, hat uns Gott geliebt, so sollen wir uns auch untereinander lieben“ (V. 11). Weil Gott uns liebt, darum gilt, dass wir seine Liebe weitergeben können und sollen. Hier droht es zuweilen anstrengend und ermüdend zu werden. Der mittelalterliche Theologe Bernhard von Clairvaux (1090-1153) schreibt dazu: „Wenn du vernünftig bist, erweise dich als Schale und nicht als Kanal, der fast gleichzeitig empfängt und weitergibt, während jene wartet, bis sie gefüllt ist. Auf diese Weise gibt sie das, was bei ihr überfließt, ohne eigenen Schaden weiter. (...) Lerne auch du, nur aus der Fülle auszugießen und habe nicht den Wunsch, freigebiger als Gott zu sein.“ Wir können nur weitergeben, was wir von Gott empfangen haben. Es gibt ein Brennen in der Liebe, aber auch ein Ausbrennen in Aktionismus und Selbstüberschätzung. Wer mehr gibt, als er selbst empfangen hat, erschöpft damit seine in jedem Fall begrenzten Kräfte. Schließlich wird eine dritte Bewegung der Liebe sichtbar: Die von Gott geschenkte Liebe, die wir Gott entgegenbringen können (V. 20). Hier schließt sich der Kreislauf des in der Liebe In-Gott-Bleibens: Weil Gott uns zuerst geliebt hat, darum können wir seine Liebe an andere Menschen weitergeben und auf Gott ausrichten. Damit ist Christsein wirklich in wenigen Worten beschrieben: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott und Gott in ihm.“

Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

Juli 2018

Säet Gerechtigkeit und erntet nach dem Maße der Liebe! Pflüget ein Neues, solange es Zeit ist, den HERRN zu suchen, bis er kommt und Gerechtigkeit über euch regnen lässt! (Hosea 10,12)

Gibt es zum Thema „Gerechtigkeit“ noch etwas Neues zu sagen? Während politische Partien nicht müde werden zu versichern, dass sie sich programmatisch neu ausrichten, um Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen, scheint in der Bevölkerung Ernüchterung eingekehrt zu sein: „Gerechtigkeit? Wo bitte soll es die denn noch geben? Das sind doch nur leere Phrasen. Am Ende geht es alles immer so weiter wie bisher.“ Der Prophet Hosea scheint in dieser Hinsicht die Hoffnung nicht ganz aufgegeben zu haben, auch wenn er im folgenden Vers (Hos 10,13) feststellen muss, dass statt Gerechtigkeit und Liebe nur Bosheit und Gewalt um sich greifen. Doch im Blick auf die Frühzeit Israels, in der Israel gleich wie eine junge Kuh Lust und Kraft hatte, die Arbeit zu erledigen (Hos 10,11), wagt der Prophet es, vom Neuanfang zu sprechen. Im Bild gesprochen, nicht nur den bestehenden Acker immer wieder neu umzugraben, und damit nur scheinbar Veränderungen zu bewirken, sondern überhaupt neues Land urbar zu machen. Die eigentliche Forderung ist zwar mit dem landwirtschaftlichen Vergleich nur schwer in Einklang zu bringen (Gerechtigkeit ist ja nichts, was man einfach in die Hand nehmen und Samen gleich in die Furchen werfen könnte), der Sinn dahinter aber eindeutig: Wer nach dem Maßstab von Gerechtigkeit und Liebe handelt, der und die hat auch die Aussicht, dass Gott seinerseits Gerechtigkeit „regnen“ und die Menschen kraft ihrer gegenseitigen Solidarität Gutes erfahren lässt. Gibt es zum Thema Gerechtigkeit noch etwas Neues zu sagen? In den Schriften der Bibel gibt es zur Sozialethik eine ganze Menge alt Bewährtes wieder neu zu entdecken, das auch für unser heutiges Leben relevant ist: die Liebe zum Nächsten wie zum Fremden (3. Mose 19,33-34), den Schutz der Tiere wie der Natur (5. Mose 22,6-7), die Solidarität mit den Armen und Schwachen (Sprüche 14,31), der Einsatz für Frieden statt Segnung der Waffen (Ps 46,10), der Schutz von Frauen (und Männern) vor körperlicher Gewalt und seelischer Misshandlung (2. Samuel 13,1-20), oder ein respekt- und würdevoller Umgang mit älteren Menschen (3. Mose 19,32). So wird die „Suche“ nach Gott praktisch und konkret.

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

Juni 2018

Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.  (Hebr. 13,2)

Manchmal lohnt es sich, einen Satz von hinten zu lesen. Fangen wir also bei den Engeln an. Was haben Engel mit der Gastfreundschaft zu tun? Ich behaupte: Eine Menge. Zunächst einmal sind sie ein wichtiger Hinweis. Denn die Engel, die man da ahnungslos im Haus hat, lassen erkennen, dass es bei der Gastfreundschaft nicht einfach um ein Tauschgeschäft geht. Also um einen Handel nach dem Motto: Wenn ich diese oder jene Person bei mir aufnehme, kann ich auf eine entsprechende Gegenleistung rechnen. Nein, „ohne es zu ahnen“ waren die Engel da. Sie sind nicht Objekt der Berechnung. Sie sind auch nicht die Vertreter meines Bekannten- oder Gesinnungskreises. Dann wären sie ja auf den ersten oder zumindest auf den zweiten Blick klar zu identifizieren gewesen: Ah, mein Nachbar von gegenüber, meine liebe Schwester aus der Gemeinde, mein Kollege aus der Sportgruppe! Gastfreundschaft erstreckt sich niemals nur auf diejenigen, die man bereits kennt und bei denen man damit rechnen kann, dass sie sich irgendwann erkenntlich zeigen. Es war daher in der Antike ein schöner Brauch, dass man den Fremden am Tisch erst im Anschluss an das Gastmahl nach seinem Namen und nach seiner Herkunft fragte. Der Hinweis auf die ahnungslos beherbergten Engel steht also dafür, dass Gastfreundschaft kein berechnender Vorgang ist. Das aber ist keineswegs alles. Denn Engel sind ja nach biblischem Verständnis Wesen, die neue Möglichkeiten eröffnen. Sie bereichern unsere vorfindliche Wirklichkeit. „Engel sind Einweisungen in das Mögliche“, hat ein kluger Theologe darum formuliert. Bibelkundigen werden dabei viele Beispiele vor Augen stehen, besonders vermutlich die Geschichte von der Aufnahme der Boten Gottes durch Abraham, Sara und Lot vor dem drohenden Untergang von Sodom und Gommora. Wenn wir andere Menschen, wenn wir Fremde in unsere Häuser und an unsere Tische einladen, dann erweitert sich oft genug unser begrenzter Horizont. Wir erfahren etwas über das Leben der anderen und dabei nicht selten auch über uns selbst. Und manchmal, ja manchmal ist sogar die „engelhafte“ Erkenntnis dabei: Ganz anders könnte man leben. Darum: Vergesst die Gastfreundschaft nicht!

Prof. Dr. Volker Spangenberg
Professor für Praktische Theologie

Mai 2018

Es ist aber der Glaube ein feste Zuversicht dessen, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht. (Hebr 11,1)

Seien wir ehrlich: Sich an eine Hoffnung, die man nicht sieht, zu klammern und an einem unsichtbaren Wesen festzuhalten, ist heute alles andere als akzeptiert. Das Phänomen zeigt sich in manchen Regionen der Republik mehr als in anderen, aber mit der Aufklärung und den modernen wissenschaftlichen Methoden scheint ein religiöser Glaube schwer vereinbar zu sein. Das Paradigma lautet: Was man nicht wiegen, greifen, spüren kann, das ist wissenschaftlich irrelevant. Oder kurz: was nicht messbar ist, das gibt es nicht!
Dabei basiert der christliche Glaube in erste Linie gar nicht auf unsichtbaren Wesen und zukünftigen Visionen. Er fußt nicht auf mystischen Geheimlehren und magischen Ritualen. Der christliche Glaube sieht in der Bibel ein Zeugnis, in dem Menschen bereits seit Generationen von ihren Erlebnissen mit Gott berichten. Die Verfasser der Bibel waren überzeugt, dass in Jesus Christus das göttliche Wort Fleisch wurde und unter uns wohnte (Joh 1,14). Die Botschaften seines Lebens, Sterbens und seiner Auferstehung wurden über Jahrhunderte von Glaubenden gesammelt, ausgewählt und schließlich in Form eines Kanons zusammengefasst. Damit hat das Christentum eine handfeste Basis: Wir können die Jesusworte lesen und uns damit kritisch auseinandersetzen. Wir können seinen Lebensweg nachverfolgen und sein Handeln und Fühlen nachempfinden. Wir können ihn durch seine Geschichten und Gleichnissen greifbar machen und uns vorstellen, wie er auf seine Mitmenschen gewirkt haben muss. Wir können die Person Jesu als historische Figur analysieren und seine Spuren in der Kirchengeschichte nachspüren. Welche Schlüsse man daraus zieht, also ob man in Jesus einen großen Philosophen, einen jüdischen Irrlehrer und Staatsfeind oder doch den Sohn Gottes sieht, so wie es die Verfasser sahen, das kann nur jeder für sich selbst entscheiden. Wer jedoch die tiefe Weisheit, Liebe und Relevanz der einzigartigen Botschaft Jesu für das eigene Leben erkennt, der darf wagen zu glauben, dass dahinter mehr steckt, als Menschen sehen können. Wer im Glauben die lebensverändernde Kraft dieser Botschaft spürt, der entwickelt eine feste Zuversicht, dass Jesus sein angefangenes Werk auch in Zukunft zu Ende bringen wird, auch wenn wir das unter Umständen nicht mehr selbst sehen werden.

Markus Höfler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Rektoratsassistent

April 2018

Jesus Christus spricht: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.  (Joh 20,21)

Noch konnten es die Jünger Jesu nicht fassen. Noch hatten sie Angst und versteckten sich: nicht, dass auch sie ans Kreuz  genagelt werden und einen schrecklichen Tod sterben wie ihr Meister Jesus. Die Frauen hatten zwar etwas davon erzählt, dass Jesus ihnen im Garten begegnet ist.  Aber das kann ja gar nicht sein: Tot ist tot! Für Jesus und für sie gab es keine Hoffnung. Alle Türen haben sie verschlossen, alle Fenster verrammelt. Hoffnungslos und verzagt kauerten sie im Halbdunkeln. Plötzlich steht Jesus da, einfach so, und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Zweimal sagt er ihnen seinen Frieden zu. „Ich bin kein Gespenst, sondern Jesus, den ihr kennt; seht meine durchbohrten Hände.“ Es geht alles so schnell; sie können es kaum fassen, glauben: Jesus ist wirklich vom Tod auferstanden und er lebt. Nun spricht er das Sendungswort über sie aus und bläst sie an mit dem Geist Gottes, der ihn lebendig und die Macht des Todes gebrochen hat. Jesu Werk ist nicht zu Ende; sein Heil will zu allen Menschen kommen. Und dazu sendet er sie, die sich vor Unsicherheit und Angst verkrochen hatten. Sie sind berufen, die Mission Jesu fortzusetzen.
Jesus hat den Jüngern damals und uns heute den Weg unserer Mission vorgezeichnet: Er predigte das Reich Gottes, forderte zur Umkehr heraus und lud dazu ein, sich auf die Liebe seines himmlischen Vaters einzulassen. Jesus nahm die Menschen in ihren Nöten ernst und berührte sie heilend und befreiend. Er setzte sich mit den Verstoßenen an einen Tisch, aß und trank mit ihnen, und ließ sie so die Nähe Gottes spüren. Wie er als Gottessohn sich erniedrigte und Mensch wurde, so sind wir berufen, unseren Mitmenschen Schwester und Bruder zu sein. Wir müssen nicht alles auf einmal tun; wir müssen eigentlich gar nichts, sondern lassen einfach die Liebe Gottes durch uns hindurch fließen zu den Menschen um uns herum. Dabei mögen wir uns unsicher oder ungenügend fühlen, aber Jesus, der Auferstandene, ist da, und sein Friede durchdringt den Nebel unserer Furcht und kommt bei anderen an, durch uns und manchmal auch trotz uns.

Prof. Dr. Michael Kißkalt
Rektor und Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie

März 2018

Jesus Christus spricht: Es ist vollbracht! (Joh 19,30)

Insgesamt sieben letzte Worte werden uns in den neutestamentlichen Evangelien von Jesus Christus überliefert. Nicht in allen Evangelien sind es dieselben. Das Wort, das zu unserem Monatsspruch geworden ist, steht nur im Johannesevangelium. Am Kreuz hängend spricht Jesus: „Es ist vollbracht!“.

Wenn etwas vollbracht wurde, dann wurde es vollständig zu Ende gebracht. Diesen Sinn enthält auch das griechische Wort, das in der Bibel an dieser Stelle verwendet wird. Seine Grundbedeutung ist „ans Ziel kommen“. Aber was ist denn hier ans Ziel gekommen? Was wurde vollständig zu Ende gebracht?

Es könnte scheinen, als würde dieses Wort vielleicht besser in den Mund des römischen Hauptmanns passen, der die Kreuzigung durchführte. Jetzt, da der Gekreuzigte seine letzten Atemzüge tut, ist die Hinrichtung vollbracht. Das würde passen. Aber im Munde des Gekreuzigten? Was soll das Wort da bedeuten? Jesus ist hier doch ein machtloses Opfer weltlicher Gewalt. Er handelt nicht, er leidet nur.

Aber das ist nur der äußere Schein. Eigentlich geschieht hier etwas anderes, und darauf will uns das Kreuzeswort hinweisen. Entgegen allem Anschein bringt Jesus in diesem Moment eine Aufgabe zu Ende, die Gott der Vater ihm mitgegeben hat, als er auf die Welt kam: Er sollte den Vatergott den Menschen erkennbar machen. In den Worten und Taten Jesu sollte man Gott ablesen können wie in einem aufgeschlagenen Buch.

Auch Jesu Passion, sein Leiden und Sterben, sollte Zeugnis von Gott ablegen – von der unendlichen Liebe, durch die Gott sich selbst als Opfer für die Sünden der Menschen hingibt, indem er dem Hass und der Gleichgültigkeit der Menschen zum Opfer fällt. In der großen Geduld, mit der Jesus den Widerwillen der Menschen gegen ihn ertrug und alles mit sich machen ließ, was sie ihm antaten, in dieser Geduld sollte die Liebe Gottes spürbar werden, die selbst seinen Feinden gilt. Diesen Auftrag hat Jesus am Kreuz vollständig erfüllt. Darum konnte er mit Recht sagen: „Es ist vollbracht“.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie und Dogmengeschichte

Februar 2018

Es ist das Wort ganz nah bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust. Dtn 30,14

Das Leben als Christ könnte so einfach sein, würde Gott nur deutlicher zu mir sprechen! Würde er mir klar sagen welcher Partner der Richtige für mich ist, ich wäre der glücklichste Beziehungsmensch. Würde er mir sagen welcher Beruf oder welcher Arbeitgeber zu mir passt, ich würde mit Freuden morgens aus dem Bett kriechen und zur Tat schreiten. Würde es mir all meine Fragen beantworten, wie einfach wäre es für mich ein gottgefälliges und gutes Leben zu führen. Schade, guter Gott, dass du so oft schweigst.

Das Volk Israel hatte es während seiner 40-jährigen Wüstenwanderung mit einem sehr gesprächigen Gott zu tun. Er äußerte sich nicht nur in Zeichen und Wundern, sondern offenbarte seinen Willen ganz klar in den zwei Bünden, die er mit dem Volk im Lande Moab und am Berg Horeb schloss (Dtn 28,69). Als Gott am Ende dieser Wüstenzeit das Volk fragte, ob es nach alledem zu Gott gehören und seinen Willen befolgen wollte oder nicht, dürfte die Entscheidung dementsprechend leicht gefallen sein. Es war die Entscheidung, wie der HERR es selbst deutlich formulierte, zwischen Segen und Fluch, zwischen Leben und Tod. An diesem Punkt hätte die Bibel mit einem „Happy End“ aufhören können. Das Volk nimmt unter Josuas Führung das gelobte Land ein und lebt unentwegt unter dem Segen Gottes, der gesunde Familien, reichhaltige Ernten und andauernden Frieden verheißt. Es ist diese Stelle, an der Gott den Vers dieser Andacht spricht und dazu einlädt sein Wort zu halten und dadurch Leben zu empfangen. Doch leider endet die Bibel nicht an diesem Punkt. Es folgt Buch um Buch die Geschichte eines Volkes, das von Götzendienst, Ungerechtigkeit und Korruption nicht lassen konnte. Es ist die Geschichte der ganzen Menschheit, der es nicht gelingt Gottes Wort zu beherzen und der Sünde Stand zu halten (Röm 3,10ff). Gott könnte uns seinen Willen jeden Morgen neu in Großbuchstaben auf den Arm tätowieren, wir würden an seinem Wort genauso scheitern wie an der Einsicht, dass wir gesünder essen, sportlicher leben, leidenschaftlicher glauben und liebevoller mit Anderen umgehen sollen. Es ist zwar schön und gut wenn wir uns bemühen und Fortschritte erzielen, aber Sündlosigkeit liegt leider nicht in unserem Wesen: Das Schweigen Gottes war nie das Problem, sondern das Herz des Menschen.

Aus diesem Grund musste das Wort in Jesus selbst Fleisch werden (Joh 1,14) und für unsere Schuld sterben. Es war die einzige Chance, um die menschliche Geschichte des ewigen Scheiterns zu durchbrechen. Wer nach Gottes Willen für sich fragt, der sollte in erster Linie nicht an einen endlosen Frage-Antwort-Katalog denken, sondern an das große Ja-Wort Gottes an uns. Wer diesem Wort glaubt, dem ist es ganz nahe. Wer dieses Wort Im Munde  und im Herzen behält, der lebt im Bund mit Gott.

Markus Höfler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Rektoratsassistent

Januar 2018

Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihm darfst du keine Arbeit tun: du und dein Sohn und deine Tochter und dein Sklave und deine Sklavin und dein Rind und dein Esel und dein ganzes Vieh und dein Fremder in deinen Toren.
Dtn 5,14 (E)

Zentral für die Heiligung des siebten Tages ist in diesem Vers nicht der Besuch eines Gottesdienstes oder eine andere religiöse Pflichterfüllung, sondern die Konzentration auf die Ruhe. So wie Gott nach sechs Tagen schöpferischer Tätigkeit am siebten Tag von seiner Arbeit ausruhte, so soll auch sein Volk nicht zur ununterbrochenen Arbeit verdammt sein. Ein Innehalten wird gefordert, von dem nicht einmal die Sklaven oder die Tiere oder die schutzlosen Fremden ausgenommen sind.

Diese Worte entstammen einer Zeit, in der jeder Tag einen Kampf ums Überleben bedeutete. Aber jeden siebten Tag nur Ausruhen, das Leben genießen, die Vielfalt der Natur bestaunen – so wie Gott am siebten Tag seine Schöpfung besah, um festzustellen, dass alles sehr gut war – das wird hier in den zehn Geboten nicht nur den Reichen zugestanden, sondern allen Menschen, ja sogar den Nutztieren.
Auch in der modernen Gesellschaft, in der permanente Hektik das Leben prägt, in der Rund um die Uhr die Lichter brennen, ist Ruhe und Innehalten keine Selbstverständlichkeit. Auch uns tut es gut, wenn uns der Wochenrhythmus alle sieben Tage einen zeitlichen Schutzraum bietet, in dem von uns keine Arbeit und keine Leistung erwartet werden. Ein Tag der Besinnung, an dem wir nicht nachweisen müssen, dass wir etwas geschafft haben. Ein Tag der Freiheit, um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu tun.
Das Gebot der Sabbatheiligung fordert uns heraus, einen kollektiven Tag der Ruhe für alle zu sichern. Der letzte Tag der Woche soll als arbeitsfreier Tag für die schönen Dinge des Lebens reserviert sein. Es ist Gottes Auftrag an uns, einen Tag in der Woche so zu gestalten, das an ihm möglichst niemand fremdbestimmt wird. Das ist keine Pflicht, sondern ein Vorrecht, zu dessen Verteidigung uns Gott im Gebot der Sabbatheiligung auffordert. Ein Tag mit geschlossenen Geschäften, leeren Büros und weniger Verkehr. Ein Tag ohne Hektik, ohne Konsum und ohne Zeiterfassung. Ein Tag zum Spielen, zum Lesen, zum Nachdenken, zum Hören, zum Musizieren, Entspannen und Liebe machen.

Wenn wir diesen Tag der Ruhe wieder suchen und heilig halten, werden wir auch Gott selbst, den Liebhaber des Lebens, an diesen Sonntagen unseres Lebens neu entdecken können. Dann finden wir wieder Zeit zum Gebet, zum Lesen in der Bibel, zum Hören auf Gottes Wort, zum Singen und zum Nachdenken über Gottes Güte. Nicht als Pflichtübung oder aus schlechtem Gewissen, sondern weil unser Kopf wieder dafür frei wird, uns darauf neu einzulassen.

Den Sabbat so zu heiligen, ist nicht leicht in einer hektischen Welt, die auch am Sonntag nicht still steht. Aber in dem Streben nach einer gemeinsamen Sabbatruhe am Ende der Woche liegt seit Israels Zeiten ein besonderer Segen Gottes für unser Leben.

Prof. Dr. Ralf Dziewas
Prorektor und Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Jahreslosung 2018

Gott spricht: Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.
(Offenbarung 21,6)

Am Anfang eines neuen Jahres nähern wir uns mit diesem Vers dem Ende des letzten Buches der Bibel. Im vorletzten Kapitel der Bibel geht es noch einmal ums Ganze: „Und er sprach zu mir: Es ist geschehen: Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst.“ Wie Jesus am Kreuz unmittelbar vor seinem Tod sein Leben zusammenfasst: „Es ist vollbracht“, so blickt Gott mit diesen Worten auf die gesamte Heilsgeschichte. Der Tod hat nicht das letzte Wort behalten, sondern das Leben hat gesiegt. Der zu Unrecht Hingerichtete ist nun selbst der gerechte Richter auf dem Thron Gottes. Aus himmlischer Perspektive wird ein klarer Blick auf die Dinge zwischen Alpha und Omega, zwischen Anfang und Ende offenbart. In diesem Bereich leben wir. Vom Kreuz her kommend, gehen wir auf den Richterstuhl Gottes zu, auf dem Jesus Christus sitzt. Das ist die Perspektive, in der sich unser gegenwärtiges und zukünftiges Leben als Christinnen und Christen vollzieht. Wir sind auf dem Weg zur endgültigen Verwirklichung des Heils am Ende aller Zeiten. Welche Werke können wir dazu beitragen? Was wird von uns erwartet, damit wir dereinst vor Gott bestehen können? Nichts. Nein, wirklich nichts! Unser Heil ist schon am Kreuz von Golgatha erworben worden und der Glaube daran ist Geschenk. Wir können und sollen Jesus nachfolgen, aber das Heil müssen und können wir nicht selbst hervorbringen. Entscheidend ist jedoch, dass wir auf dem Weg nicht verdursten. Das Bild führt uns weit zurück in die Zeit des Auszugs der Israeliten aus der ägyptischen Gefangenschaft zu lebensbedrohlichen Erfahrungen des Wassermangels. Mitten in der Wüste erleben sie, wie Gott Wasser aus einem Felsen fließen lässt (4.Mose 20,2ff.) und Mensch und Vieh vor dem sicheren Tod bewahrt. Als Hirte führt Gott auch uns zum frischen Wasser (Ps 23,2). Dem Ende der Johannesoffenbarung noch etwas näher folgt ein Aufruf (Offb 22,17): „Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.“ Wir werden vom Geist Gottes und von Jesus aufgefordert, uns kräftig zu bedienen. Wo sind die Orte, an denen dieses Wasser fließt? Lebendig sprudelnde Gottesdienste mit inspirierendem Wort und frischem Lobpreis, gute Gespräche unter Wasserfreunden, tiefschöpfender Austausch über Bibeltexte und Zeiten des stillen Hörens auf das fließende Wasser sind nur einige Beispiele, die unseren Glauben vor dem Vertrocknen bewahren. Für das neue Jahr 2018 wünsche ich uns jede Menge solcher Quellerfahrungen, – von dem, der der Anfang und das Ende ist.

Prof. Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament

2017

Dezember 2017

Durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes wird uns besuchen das aufgehende Licht aus der Höhe, damit es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.  Lukas 1,78-79 (L)

Wir sind Gott nicht egal. Die biblischen Geschichten erzählen uns, wie sehr Gottes Herz schmerzt, wenn er das Böse sieht, was auf Erden geschieht. Es ist nicht so, dass er seine Erde nach der Schöpfung sich selbst überlässt, um wieder in seine Ewigkeit zu entschwinden. Wie unfassbar ist es doch, dass der Ewige und Allmächtige sich nicht mit sich selbst alleine zufrieden gibt, sondern mit uns Menschen zusammen sein will. Weil er uns liebt, gibt er uns die Freiheit, unser Leben zu gestalten, wie wir es wollen. Damit gibt er uns auch die Möglichkeit, uns für das Böse zu entscheiden. So finden wir in unserer Welt manches Gute, aber eben auch viel Leid, das wir Menschen in unserer Selbstbezogenheit über andere Menschen bringen. Nun schnipst Gott nicht einfach mit dem Finger, um uns zum Guten zu zwingen. Gott wählt einen anderen Weg, um uns aus dem Schlamassel herauszuführen. Er kommt zu uns, als unser Mitmensch und Bruder: in Jesus. An Advent und an Weihnachten machen wir uns dieses wunderbare Handeln Gottes besonders bewusst. Nicht ein neues göttliches Gesetz posaunt er über unseren Köpfen aus, dem wir nun nachkommen sollen. Das Besondere am christlichen Glauben ist die Erfahrung, dass Gott Mensch wird, um uns zu erlösen und an die Hand zu nehmen, um mit seiner Liebe im Herzen zu leben. Gott gewährt uns seine Barmherzigkeit bedingungslos. Gottes Barmherzigkeit ist Anfang, Mitte und Ziel unserer Rettung. Sie überwindet unseren Egoismus. So nimmt Gott uns mit in ein neues Leben, auf den Weg des Friedens.
Was hilft uns nun diese Glaubenswahrheit in den konkreten Herausforderungen unseres Lebens? Gerade habe ich es auf einer Reise in Haiti erlebt, wie Christen diese Hoffnung im Gottesdienst feiern und in der ausweglosen erscheinenden Situation des Landes evangelistisch, diakonisch und politisch aktiv werden, um konkrete Projekte zur Verbesserung des Lebens anzuschieben.  Es bleibt vieles Stückwerk und es ist ein mühsamer Weg, aber die Hoffnungsenergie der Christen dort ist unglaublich. Wo sie wirken, im Lichte der Barmherzigkeit Gottes, auf dem Weg des Friedens, da schmecken die Menschen etwas vom guten Leben, das Gott für uns gedacht hat.

Prof. Dr. Michael Kißkalt
Rektor und Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie

November 2017

„Ich will unter ihnen wohnen und will ihr Gott sein und sie sollen mein Volk sein“ (Hes 37,27)

Wenn man auf einer Wanderung aus dem Wald ins Tal herabsteigt und das nächste Dorf sucht, kann man sich oft am Kirchturm orientieren: Mitten im Dorf wurden einst die Kirchen gebaut, oder eher die Dörfer um die Kirchen herum. Hoch über die Gehöfte ragt der Kirchturm auf und markiert weithin sichtbar den Mittelpunkt. Auch in Dörfern, wo nur noch selten oder gar nicht mehr Gottesdienst gefeiert wird, hängen die Leute an ihren Dorfkirchen, gründen Initiativen zur Rettung und Renovierung der alten Gemäuer. Eine Umnutzung, etwa als Kino oder als Supermarkt, wird empört abgelehnt: Die Kirche bleibt im Dorf. Unausgesprochen schwingt da etwas mit, was man nicht sagen kann oder nicht sagen will: Gott soll hierblieben. Die DDR-Behörden rissen gelegentlich demonstrativ Kirchengebäude nieder. Die amtlichen Begründungen waren gewunden, die unausgesprochene Botschaft war eindeutig: Hier soll kein Gott mehr wohnen.

Im alten Israel, in dem der Priestersohn Hesekiel vor mehr als 2600 Jahren aufwuchs, kannten alle Pilger den heiligen Schauder, die Gänsehaut in jenem Augenblick, wenn sich nach dem langen Aufstieg durch die staubige Hügellandschaft vor den Wanderern weiß und golden der Tempel über den niedrigen Lehmhäusern Jerusalems erhob: der Ort, an dem Gottes Name, Gottes lichtstrahlende Herrlichkeit, wohnt – für die Israeliten der Mittelpunkt der Welt, ja des ganzen Kosmos. Dagegen waren für die Großmächte der Zeit das kleine Königreich Juda und seine Hauptstadt nur unbedeutende, störende Flecken auf der Landkarte der großen Weltpolitik. Im Zuge einer imperialen Flurbereinigung ließ der babylonische Herrscher Nebukadnezar den Kleinstaat beseitigen, den Tempel zerstören, Adel und Priester nach Babylon deportieren. Die Symbolik war klar: Es sollte kein Volk mehr geben, und der Gott Israels sollte keinen Ort mehr haben, wo er wohnen kann. In der Trostlosigkeit des Exils erlebt Hesekiel seine Berufung zum Propheten. Seine Botschaft gipfelt in einem gewaltigen Bauplan für einen neuen Tempel, größer und prächtiger als zuvor. Im Heiligtum werde ein Wasserstrom entspringen, der das dürre Land in einen Garten verwandelt. Dann wird Jerusalem, so schließt das Hesekiel-Buch, einen neuen Namen erhalten: „Hier wohnt Gott“.

Später wurde in Jerusalem tatsächlich wieder ein Tempel für den Gott Israels gebaut, aber so bescheiden, dass er an die gewaltigen Baupläne der Visionen Hesekiels bei weitem nicht heranreichte. Und keine Spur von einem Strom lebendigen Wasser aus dem Heiligtum. Wo wohnt Gott? Man kann weite Teile der biblischen Schriften als Diskussion dieser Frage lesen. Die radikalsten Antworten finden sich im Neue Testament: Gott wohnt nicht in Gebäuden, die von Menschen gebaut werden. Gott ist nicht im Tempel, sondern bei den Menschen. Wir können nicht zu ihm hin pilgern, sondern er ist auf dem Weg zu uns. Er ist mitten unter den Wanderern, bei Jesus und denen, die sich mit ihm auf den Weg machen. Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, enthält in den Schlusskapiteln eine eigenwillige Auslegung der Vision des Hesekiel. Das Bild, mit dem Johannes das Ziel alles Handelns Gottes mit den Menschen beschreibt, ist der Bauplan einer Stadt des Friedens, in der Platz für Menschen aus allen Völkern ist. In dieser Stadt wird es überhaupt keinen Tempel mehr geben. Gott wird einfach da sein.

Ich sehe mir gerne alte oder architektonisch schöne Kirchen an, ja auch Moscheen und Synagogen, auch wenn ich mir nicht vorstelle, dass Gott dort mehr zuhause ist als an irgendeinem anderen Ort. Ich stelle mir vor, dass er auch gar nicht die Zeit dazu hat, in einem ehrwürdigen Gebäude fernab vom Trubel, vom Alltag, vom Leid der Menschen zu sitzen oder zu schweben und zu warten, dass die Leute zu ihm kommen. Er ist ständig unterwegs, um Menschen zu suchen und zu ihnen zu kommen: Wo Menschen sich vom Evangelium anreden lassen und ihr Leben neu wird, ist Gott nahe und ist am Werk. Wo der Glaube Menschen zu Brüdern und Schwestern werden lässt, da wirkt und ist er mitten unter ihnen. Wo in Jesu Namen das Brot gebrochen wird und der Kelch geteilt wird, ist er da, schon jetzt, da wir noch auf dem Weg sind: Mitten unter den Menschen.

Prof. Dr. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte

Oktober 2017

„Es wird Freude sein vor den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut“ (Lukas 15,10).

Am 31. Oktober jährt sich zum 500. Mal jenes Ereignis, das zum symbolischen Auftakt der Reformation wurde: Die Bekanntmachung von Martin Luthers 95 Thesen über die Kraft des Ablasses. Luther hatte das Ziel, die Kirche zu reformieren. Dadurch dass sie sich dem verweigerte und ihn ausstieß, entstanden die evangelischen Kirchen weltweit, auch die evangelischen Freikirchen.

Vordergründig ging es in Luthers Thesen um den Ablass, d.h. um die Aufhebung zeitlicher Strafen vor Gott für Sünden, deren Schuld bereits getilgt ist. Ihr eigentliches Thema ist aber die Buße. Was heißt „Buße tun“? Zu Luthers Zeiten verstand man darunter einen kirchlichen Ritus, zu dem die Beichte bei einem Priester gehörte und die Ableistung von Strafen, die dieser Priester zur Wiedergutmachung für die Sünden festgelegt hatte. So wurden die Strafen zum wichtigsten Punkt bei der Buße. Das merkt man in unserer Sprache zum Teil noch bis heute: Für Rechtsverletzungen im Verkehr sind „Bußgelder“ zu zahlen, und Haftstrafen werden „verbüßt“.

Luther wollte nun mit seinen Thesen darauf hinweisen, dass die Buße im Neuen Testament mit einem „Abbüßen“ nichts zu tun hat, sondern eine bestimmte Haltung des Herzens vor Gott ist. Buße beginnt mit der Einsicht, vor Gott schuldig zu sein, und geschieht durch Bekenntnis der Sünden sowie das Vertrauen auf die Zusage von Gottes Vergebung. Wer es damit ernst meint, der fängt an, sein Leben zu ändern, selbst wenn ihm keine Strafen aufgebrummt werden. Wer Buße tut, der versucht sich nicht zu rechtfertigen, sondern verurteilt seine Sünden, wie Gott sie verurteilt, und der nimmt dankbar an, dass Gott den Sünder, der in diesem Sinne Buße tut, nicht verwirft, sondern sich mit himmlischer Freude an ihm freut.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie und Dogmengeschichte

September 2017

Und siehe, es sind Letzte, die werden die Ersten sein, und sind Erste, die werden die Letzten sein.
Lk 13,30


Wer spät kommt, ist darauf angewiesen, dass ihn jemand hereinlässt. Wenn das große Stadttor von Jerusalem aufgrund der hereinbrechenden Nacht geschlossen war, konnte man noch durch die kleine Türe daneben hereingelassen werden. Jemand musste die verschlossene Türe von innen öffnen.

Von innen öffnet auch der Hausherr die Türe, wenn spät in der Nacht noch unangemeldet Besuch kommt. Personen, die er nicht erkennt, wird er zu so später Stunde nicht mehr hereinlassen. Jesus antwortet mit diesen beiden Vergleichen auf die Frage eines Mannes „sind es wenige, die ins Himmelreichkommen?“ Was hat der Mann mit seiner Frage gewollt oder vermutet? Vielleicht, dass Jesus zu ihm sagt: „Ja, es sind wenige und Du bist dabei!“

Die Tür zum Reich Gottes kann nur von innen geöffnet werden, so wie ein bei Nacht verschlossenes Stadttor oder Haus. Menschen, die meinen, dass sie sich ihren Eintritt sicher verdient haben, haben sich verrechnet. Sie können sich nicht einfach Zutritt verschaffen. Durch Leistung oder Wohlverhalten lässt sich die Türe nicht von außen öffnen. Der Hausherr lässt ein. Er allein entscheidet, wer in seinem Haus bleiben darf. Zu gerne wollten einige Menschen von Jesus hören, dass sie bei ihm einen besonderen Platz einnehmen, waren sie sich selbst doch schon längst sicher, dass es so ist. Jesus nimmt diese unverschämte Selbstsicherheit, mit der sich Menschen breit machen und andere verdrängen. Menschen, die sich selbst den ersten Platz einräumen, bekommen hier einen Spiegel vorgehalten. Ein mahnendes Wort: Deine Rechnung geht nicht auf. Letzte werden Erste sein und Erste Letzte. Die, von denen keiner gedacht hat, dass sie einen Platz in Gottes Reich haben werden, die werden eingelassen: von Ost und West, von Nord und Süd. Nein, wenige sind es nicht, die selig werden!

Aber die, die sich für die Ersten bei Gott halten, die sollten vorsichtig sein. Es kommt darauf an, den Hausherrn wirklich zu kennen, mit ihm in Kontakt, in Beziehung zu sein.

Andere, die sich selber zu den Letzten zählen oder von ihren Mitmenschen an diesen Platz verwiesen werden, dürfen aufatmen. Bei Gott ist es anders: Er stellt sich in Christus solidarisch zu den Letzten und lässt sie in seiner Liebe den ersten Platz einnehmen. Gut für alle, die sich auch zu den Letzten stellen. Die sich denen zuwenden, die die Gesellschaft nach hinten oder unten, eben auf die letzten Plätze drängt. Gut für alle, die sich nicht breitmachen und die besten Plätze für sich beanspruchen, sondern ihre Aufmerksamkeit und Liebe den Letzten widmen. Sie müssen sich nicht um die unwichtige Tatsache sorgen, ob viele oder wenig selig werden. Sie sind jetzt schon selig, weil Christus in den Armen und Schwachen schon immer ganz nah bei ihnen ist.

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

August 2017

Gottes Hilfe habe ich erfahren bis zum heutigen Tag und stehe nun hier und bin sein Zeuge bei Groß und Klein. (Apostelgeschichte 26,22)

An bestimmten Wegmarken des Lebens halten wir inne, sehen wir uns um, bringen uns in Frage-Stellung: Wo stehe ich, wo komme ich her? Es gibt kalendarische Anlässe, an denen zurückgeblickt wird. Runde Geburtstage, Jubiläen. Nicht immer ist uns in diesen ritualisierten Formen nach einer Rückschau zumute, lassen es uns natürlich nicht anmerken, doch weichen innerlich aus. Jenseits der Feierlichkeiten indes gibt es Momente, die einen auf überraschende Weise nachdenklich stimmen, wo man unweigerlich merkt: es ist so viel passiert und fast wäre mir entgangen, was sich im Laufe der Zeit alles verändert hat. In der Regel sind das Zeiten, die rein äußerlich kaum auffallen, weil sie mit einer gewissen Verzögerung auf bestimmte Ereignisse uns überhaupt bewusst werden. Irgendwann wacht man auf und stellt fest, dass „die alten Zeiten“ vorbei sind, dass man nicht mehr Kind ist, oder Jugendlicher, oder berufstätig oder gesund und stark. Das gleiche beobachten wir bei unseren Mitmenschen, den Familien und Freunden: Die Kinder wachsen heran – „plötzlich“ sind sie groß geworden. Der feste Freundeskreis von damals hat sich mit der Zeit merklich verkleinert – aber mich gibt es noch. Das Gemeindebild verändert sich, nach vielen Herausforderungen, die alle in Atem halten, kehrt etwas Ruhe ein. Ob im Blick auf das je eigene Leben oder das soziale Umfeld, in bestimmten Momenten wird uns bewusst, dass wir – im Hier und Jetzt – da sind und wundern uns, wie überhaupt alles zugehen konnte. Es sind diese besonderen, meist stillen Augenblicke, in denen wir uns neu verorten, uns justieren und zu festigen suchen.

So zieht auch der Völkerapostel Paulus Bilanz, nach mehreren großen Reisen rund um das Mittelmeer, nach vielen Gefahren und lebensbedrohlichen Situationen, und ebenso nach zahllosen Begegnungen mit Menschen, denen er die Kraft des Glaubens zugänglich machte – eine Kraft, die ihn selbst durch alle Höhen und Tiefen hindurchtrug und trägt.

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

Juli 2017

Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung. (Phil 1,9 (L))

Wie werde ich reich? Durch Glück, weil ich reich erbe. Durch Zufall, weil ich mit 6 Richtigen + Zusatzzahl den Lotto-Jackpot knacke. Oder durch viel Arbeit, weil ich einen Plan verfolge und mich von Rückschlägen nicht entmutigen lasse. Je nach familiärer Vermögenslage und Lottospielgewohnheiten stehen die Chancen für die ersten beiden Varianten eher schlecht und ich werde um die Arbeit nicht umhin kommen, wenn ich reich werden will.

Doch wie wird meine Liebe reicher? Ich kann eines von den Millionen Büchern über die Liebe lesen und verstehe mehr. Ich kann mir von meinen FreundInnen über ihre Erfahrungen mit der Liebe erzählen lassen und daraus meine Schlüsse ziehen. Ich kann gebannt zusehen, wie Hollywoodschönheiten in den Sonnenuntergang reiten und konstruiere mir ein kitschig-romantisches Bild von der Liebe. Wirklich geliebt habe ich dann noch nicht. Und reicher ist meine Liebe auch noch nicht geworden. Reicher in der Liebe werde ich nicht, indem ich darüber nachdenke, rede und träume, sondern indem ich es tue. Indem ich liebe. Indem ich mich ins Leben stürze und mich auf die Menschen in meiner Umgebung einlasse. Wirklich einlasse. So anders sie auch sein mögen, so fremd mir ihre Anschauungen erscheinen und ihre Art zu Glauben der meinen so wenig ähnelt. (Ok, vielleicht genügt es auch mit denen zu beginnen, deren Ansichten mir vertrauter sind!) Denn „reicher an aller Erfahrung“ verheißt leider nicht, dass mir schmerzhafte Erfahrungen und Begegnungen erspart bleiben. Aber gerade diese Erfahrungen, auf die ich und wahrscheinlich wir alle, lieber verzichten würden, machen unsere Liebe reicher – intensiver und tiefer. Und dann kommt bei allem Erleben auch wieder das Reflektieren und Reden ins Spiel – indem ich darüber bete und mir von Gott Einsichten geben lassen, indem ich über Liebe lese, erweitere ich meine Erkenntnis und verstehe besser, was Liebe ist und wie Gott liebt. Indem wir uns austauschen, ehrlich sagen, was verletzend war und was wir schön fanden, wir einander vergeben und gnädig sind, erweitern wir unseren Erfahrungsschatz und unsere Liebe wird reicher. Das ist mitunter harte Arbeit. Aber es lohnt sich!

Stefanie Desamours
Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Mission und Diakonie an der Theologischen Hochschule Elstal und Sachbearbeiterin für Katastrophenhilfe im Dienstbereich Mission

Juni 2017

Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. (Apg 5,29)

Zuerst erschrecke ich. Dieser Satz könnte auch ein Slogan sein für religiöse, vielleicht auch für „christliche“ Terroristen. Wenn man dieses Wort für sich allein genommen liest, ohne Zusammenhang, könnte man alles Mögliche damit rechtfertigen. Und sicherlich wurde ein biblisches Wort wie dieses im Laufe der Geschichte auch für manche Unmenschlichkeit missbraucht.

Andererseits enthält dieses „Gott mehr gehorchen als den Menschen“ auch großes Veränderungs- und Trotzpotential, z.B. wenn man sich aufgrund seines Glaubens weigert, bestimmte Dinge zu tun, die andere von einem verlangen, die aber im Widerspruch zur eigenen Überzeugung stehen. Unser Gewissen ist zuerst und vor allem an Gott gebunden, und von daher können wir „nein“ sagen oder „ja“, auch wenn wir in unserer Umgebung damit auf Unverständnis stoßen. In diesem Bibelwort finden wir eine zutiefst biblische Begründung für die Glaubens- und Gewissensfreiheit, für die wir als Baptisten besonders einstehen. Unsere Mütter und Väter im Glauben haben manche Schikane auf sich genommen, weil sie den Weg der Staatskirchen in Deutschland nicht mitgegangen sind, sondern Glaube und Kirche anders leben wollten in der Gesellschaft. Ja, mit diesem Wort im Rücken können wir neu und revolutionär denken und handeln. Und wir geben auch anderen den Raum, ihre Überzeugung, ihren Glauben zu leben, je nachdem, wie ihr Gewissen sie bindet.

Wir werden davor bewahrt bleiben, zu religiösen Idealisten mit Gewaltpotential zu werden, wenn wir den Ruf zur absoluten Loyalität Gott gegenüber zusammen mit dem Liebesgebot Jesu hören und leben. „Gott mehr gehorchen“ – darin steckt so viel Kraft, Geist und Kreativität, wenn wir es mit der Liebe zusammenbinden. Darum kann kein Mensch für sich alleine Gott hören, sondern wir hören gemeinsam, korrigieren einander und bewahren uns gegenseitig vor ideologischen Irrwegen. Im gemeinsamen Suchen nach Gottes Willen ermutigen wir einander, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, immer wieder neue Wege zu wagen und Gottes Liebe und Gerechtigkeit zu leben, aller Trägheit und allem menschlichen Misstrauen und Widerspruch zum Trotz!

Prof. Dr. Michael Kißkalt
Rektor und Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie

Mai 2017

Eure Rede sei allezeit freundlich und mit Salz gewürzt. (Kolosser 4,6)

Das kurze Wort hat es in sich. Denn die apostolische Aufforderung ist mehr als eine höfliche Empfehlung. Es geht um eine Haltung, die das ganze Leben bestimmen soll. Das Leben derer nämlich, die zur Gemeinde Christi gehören. Diese Haltung lässt sich mit dem Wort „Zugewandtheit“ charakterisieren. Menschen, denen das Evangelium Herz und Verstand berührt hat, ziehen sich nicht in sich selbst zurück. Ihnen geht vielmehr der Mund über. Wer glaubt, redet auch vom Glauben. Genauer gesagt: Von dem Gott, der in Jesus Christus zur Welt und damit auch zur Sprache gekommen ist. Solche Rede der Glaubenden geschieht „allezeit“. Sie prägt also zunächst einmal den ganz normalen Umgangston im Alltag. Freundlich soll er sein. Man kann auch sagen: Wohlklingend, zuvorkommend, sogar das Moment der Gnade spielt darin mit. Es ist die menschliche Entsprechung auf die Art und Weise, wie Gott selbst seine Geschöpfe angesprochen hat und immer wieder anspricht. Freundlichkeit in der Alltagskommunikation ist bereits ein kraftvolles Hoffnungszeichen in einer Welt, deren Umgangston von Engstirnigkeit, Hassreden, Oberflächlichkeit und schlechter Laune bestimmt wird. Dass es dabei nicht um ziellos frommes Gesäusel geht, zeigt sich an der Wendung „mit Salz gewürzt“. Eine gesalzene Rede steht für eine gelungene Rede. Für eine Rede also, die Interesse weckt, weil sie auf Fragen eingeht, die andere haben und stellen. Das macht der Nachsatz zu der gesalzenen Rede klar: „Dass ihr wisst, wie ihr einem jeden antworten sollt“. Es geht bei der freundlichen, mit Salz gewürzten Rede demnach immer auch um die Bereitschaft zu einer Rechenschaft vom Glauben. Dafür bedarf es freilich nicht allein rhetorischer Fähigkeiten. Man muss auch gründlich wissen und verstehen, was der Inhalt des Glaubens ist. Die christliche Gemeinde pflegt daher den ständigen Austausch darüber, was sie glaubt. Und sie bittet zugleich um Weisheit und Gelingen dafür, das Geheimnis Christi auf sachgemäße und zeitgemäße Weise zur Sprache zu bringen.

Prof. Dr. Volker Spangenberg
Professor für Praktische Theologie

April 2017

Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden. (Lukas 24, 4-6)

Am ersten Tag der Woche machten sich die Frauen mit wohlriechenden Ölen und Salben auf zum Grab. Ihr Gang ist ruhig und andächtig, im Innersten sitzt der Schrecken jedoch noch tief. Wen besuchen sie da eigentlich? Jesus, den verkündigten Messias, den Friedefürst, Wundervollbringer und Krankenheiler? Oder Jesus, den gescheiterten „Judenkönig“, wie ihn die Römer spöttisch nannten, der zu viel und zu laut seine blasphemischen Worte predigte und dafür nun die Rechnung erhalten hatte? Je näher sie dem Grab kamen, desto sinnloser und unwirklicher wirkten die letzten Monate: Stürme stillen, Brot vermehren, auf dem Wasser gehen und Kranke heilen war für ihn alles kein Problem. Die unendlichen Erwartungen und Hoffnungen in diesen Mann und sein Reich des Friedens waren doch gut begründet, doch jetzt kam sein Tod so schnell und hart, dass es ihnen den Boden unter den Füßen wegzog. Mit dem Tod enden schmerzhaft alle Hoffnungen und Erwartungen. Ein Toter bringt keinen Frieden, vollbringt keine Wunder und heilt keine Kranken. Das erwartete Friedensreich bleibt aus. Sie wollten den verkündigten König salben, nun salben sie einen kalten Leichnam.

Am Grab angekommen fanden sie jedoch keinen Leichnam. In die Ratlosigkeit sprechen „zwei Männer in glänzenden Kleidern“ die Worte dieser Monatsandacht und erweitern dadurch die bereits zahlreichen Titel Jesu um einen Weiteren: Jesus lebt, er ist der Auferstandene!

Der Titel des Auferstandenen ändert nun alles. Weil dieser Titel wahr ist, sind auf einmal wieder alle anderen Titel wahr: Der Auferstandene ist ein Friedensstifter, Wundervollbringer und Krankenheiler. Alle Erwartungen und Hoffnungen, die vor seinem Tod galten, gelten nun wieder, erweitert durch den Faktor Ewigkeit. Ewiger Frieden, ewiger König, ewiges Leben. Dabei zeigt sich die Andersartigkeit des Reiches Gottes gerade darin, dass ausgerechnet der Tod, der eigentlich für das absolute Ende steht, nun das ewige Leben einleitet. Die Frauen und Jünger hatten etwas ganz Anderes erwartet. Ihr Blick war auf das Weltliche gerichtet: Sie sahen das Ende, nicht den Neuanfang! Die Jünger verstanden es erst, nachdem sich Jesus ihnen zeigte. Als er wieder fort ging hatte sich etwas in ihnen verändert.  Der Glaube an Jesu Lebendigkeit trieb die Jünger aus ihren Häusern in die Welt, um die frohe Botschaft zu verkünden. Dort sahen ihre Augen erneut Tod, Gewalt, Hass und sicher auch Enttäuschungen. Doch anstatt aufzugeben war ihr Blick diesmal auf den Lebendigen gerichtet. Sie wussten nun, wo sie ihn suchen mussten.

Der Blick in die Welt kann oft enttäuschen. Tod, Gewalt und Hass nagen an dem Glauben an ein gutes Ende. Doch allem Augenschein zum Trotz glauben wir an einen lebendigen Gott, dessen ewiges Friedensreich im Kommen ist.

Markus Höfler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Rektoratsassistent

März 2017

Vor einem grauen Haupt sollst du aufstehen und die Alten ehren und sollst dich fürchten vor deinem Gott; ich bin der HERR. (3.Mo/Lev 19,32)

Dieser Vers steht im sogenannten Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26), in dem die Gebote Gottes damit begründet werden, dass Jahwe heilig ist und deshalb sein Volk auch heilig sein und sich entsprechend verhalten soll (vgl. 19,2). An diesen Grundgedanken erinnert auch der immer wieder zur Bekräftigung der Weisungen eingefügte Hinweis: „Ich bin Jahwe“, der in vielen Bibelübersetzungen zur Vermeidung des Gottesnamens mit „Ich bin der HERR“ übersetzt wird. In der Gesetzessammlung des Heiligkeitsgesetzes enthält das Kapitel 19 vor allem Regeln für den Alltag, wobei diese überwiegend dem Schutz der Schwachen dienen und ein gerechtes Miteinander in der Gesellschaft ermöglichen sollen. Und dabei steht in der Mitte dieses Kapitels die Kernaussage: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR.“ (V.18b)

Auch der Monatsspruch muss in diesem Kontext gelesen werden. Dabei benennen die beiden hebräischen Worte, die hinter der Übersetzung von „graues Haupt“ und „Alte“ stehen, zwei sehr unterschiedliche Personengruppen. Die Grauhaarigen, die sehr alt Gewordenen, sind die, die bereits kurz vor dem Tod stehen, wie das Sprichwort: „die grauen Haare in die Grube bringen“ (Gen 42,38; 44,29.31; 1.Kö 2,6.9) zeigt. Hier geht es beim Aufstehen um den Respekt vor der Lebensleistung derer, die sehr alt geworden sind, die man ehrt, weil sie es bis ins Alter der grauen Haare geschafft haben.

Das im Folgenden verwendete Wort für „die Alten“ hingegen meint an anderen Stellen der hebräischen Bibel zumeist die Ältesten, also die, die in der patriarchal geprägten Ordnung des alten Israel die Leitung und das Sagen haben. Diejenigen, die den richtigen Weg in die Zukunft suchen, die Verantwortung für das Miteinander tragen und deren Entscheidungen das Wohlergehen der gesamten Gemeinschaft bestimmen. Sie gilt es zu ehren, wie man verdiente Leitungspersonen mit Ehrenmitgliedschaften, Orden oder Preisen auszeichnet.

Aber am Ende des Verses steht – und das ist sowohl der Vergleichspunkt als auch die Grenze von Respekt und Ehrung der Altgewordenen und der Verantwortlichen – nur Jahwe sollen die Israeliten fürchten, also nur ihm bedingungslos gehorchen. Seine Heiligkeit ist es, die Respekt vor der Lebensleistung der Altgewordenen einfordert und die Würdigung derer verlangt, die Verantwortung tragen. Aber das Kriterium dafür, was zu würdigen ist, ist im Heiligkeitsgesetz die Umsetzung der sozialen Schutzvorschriften und des Nächstenliebegebotes. Und dazu gehört dann in den direkt folgenden Versen z.B. auch, die Fremden zu lieben und sie gegenüber den Einheimischen nicht zu benachteiligen.

Personen besonders zu respektieren und zu würdigen, die ihr Leben an den guten Geboten der Nächsten- und Fremdenliebe ausgerichtet haben, darauf liegt auch heute noch der Segen Gottes. Wir sollten nicht hinnehmen, dass soziales Engagement als naives Gutmenschentum oder gar als Verrat am eigenen Volk verunglimpft wird. Wir sollten solche Menschen vielmehr im privaten wie im öffentlichen Leben ehren und auszuzeichnen, weil wir damit das Miteinander in unserer Gesellschaft an Gottes Willen ausrichten. Insofern fordert uns der Monatsspruch dazu heraus, das Bemühen derer angemessen zu würdigen, die bereit waren und sind, bis ins hohe Alter ihr Lebens dem Wohl anderer Menschen zu widmen.

Prof. Dr. Ralf Dziewas
Prorektor und Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Februar 2017

Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als erstes: Friede diesem Haus! (Lk 10,5)

Schalom – mit diesem freundlichen und vor allem friedlichen Gruß sollen die Jünger die Freundschaft potentieller Gastgeber testen. Unmittelbar bevor Jesus den erweiterten Kreis seiner zweiundsiebzig Jünger in Zweierteams zum ersten Mal aussendet, gibt er ihnen ausführliche Anweisungen (Lk 10,3-4): Sie sollen „wie Schafe mitten unter die Wölfe“ gehen. Ihre materielle Reiseausrüstung wird arg begrenzt: kein Geldbeutel, keine Reisetasche und keine Sandalen. Unterwegs sollen sie merkwürdigerweise niemanden grüßen, vielleicht, um nicht mit dem einen oder anderen belanglosen Schwätzchen Zeit zu vertun. Diese Anweisung bleibt rätselhaft. Auf jeden Fall ist klar: Sie sollen sich auf Gott verlassen und werden auf die Gastfreundschaft an den aufgesuchten Orten angewiesen sein. Sogleich nach ihrer Ankunft sollen sie ein Haus betreten und den Friedensgruß sprechen. Wie wird es ihnen daraufhin ergehen? Sie werden entweder auf einen friedlichen und gastfreundlichen Menschen treffen, der sie nach allen Regeln der Gastfreundschaft mit Essen, Trinken und Unterkunft versorgen wird. So reich beschenkt, wird es für die Jünger ein Leichtes sein, ihre Botschaft vom Reich Gottes weiterzusagen (Lk 10,9): „Das Reich Gottes ist euch nahe.“ Oder aber ihr Friedensgruß verhallt ungehört und trifft vielleicht sogar auf eine gastfeindliche Situation. Dann sollen die Jünger nicht einmal den Staub, der an ihren Füßen klebt, mitnehmen. Auf dem Marktplatz sollen sie ihren Protest kundtun und auch einer solchen Stadt ihre Predigt nicht vorenthalten (Lk 10,11): „Das Reich Gottes ist nahe!“

Die Erzählung ist beispielhaft für die Verkündigung des Reiches Gottes, von Anfang an bis in unsere Zeit. Alles beginnt stets mit der Sendung durch Jesus. Weil er uns sendet, darum kommt er mit uns an Orte und zu Menschen, wo er Wohnung nehmen möchte. Zweitens geht es darum, dass wir als Jünger und Jüngerinnen die Sendung annehmen und uns auf den Weg machen, wirklich hingehen und Menschen den Frieden Gottes wünschen. Dabei haben wir es drittens natürlich nicht in der Hand, welche Reaktionen unser Friedensgruß hervorrufen wird. Sicher kann man dabei schlechte Erfahrungen machen. Aber darum den Frieden Gottes für sich zu behalten und den Friedefürsten zu verschweigen, das ist sicher nicht die Lösung.

Unfriede hat in dieser Welt in den vergangenen Monaten und Jahren zugenommen. Fremde haben es oft schwer, in unseren Städten friedliche und gastfreundliche Aufnahme zu finden. Das ist nicht zu übersehen. Das Klima ist auch in unserem Land rauer geworden. Gerade darum ist es mehr als einen Versuch wert, friedlich auf böse Worte zu reagieren und jene zu segnen, die uns fluchen. Wenn es dann nicht besser wird, mag es ratsam sein, sich aus dem Staub zu machen und sich nicht entmutigen zu lassen. Denn die anderen gibt es ja auch: Gastfreundliche Menschen, denen wir den Frieden Gottes, der all unsere Vernunft übersteigt, wünschen und denen wir von Jesus erzählen können. Das sollten wir tun. In diesem Sinne bitte weitersagen: Schalom!

Prof. Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament

Januar 2017

Auf dein Wort will ich die Netze auswerfen. (Lukas 5,5)

Ich versuche mir vorzustellen, einer der Fischer zu sein, die mit Petrus am Morgen aus den Booten steigen und den Frust ihres nächtlichen Arbeitseinsatzes verarbeiten. Ergebnis der harten Tortor: null Komma null! Zu wenig zum Leben und zu wenig zum Sterben. Den wertlosen Dreck aus den Netzen herausholen muss ich trotzdem. Argwöhnisch beobachte ich, wie ausgerechnet heute lauter Menschen ans Ufer drängen, um einen Wanderprediger zu hören. Das wäre eigentlich die Gelegenheit gewesen, neue Kunden zu gewinnen. Doppeltes Pech! Stattdessen will dieser Jesus auch noch eins unserer Boote zum Predigen zweckentfremden. Davon werde ich heute auch nicht satt. Etwas verwundert reibe ich mir die Augen, als er meinen Kollegen Petrus auffordert, einen zweiten Fangversuch zu starten – am helllichten Tag! Ehrlich gesagt, ich würde dem was erzählen: Mach du deinen Job und ich meinen. Aber gut, wir haben ja eh nichts zu verlieren – außer unser Gesicht. Ob Petrus ahnt, dass da noch was geht? Hat er schon Vertrauen gefasst zu diesem eigenartigen Menschen? Ich weiß nicht, was in meinem Kollegen vorgeht, habe auch keine Zeit, lange zu überlegen, muss ja mit raus, den andern helfen, ziehe nach kurzer Zeit hektisch hunderte Fische in die Boote, so dass ich bald Panik bekomme, wir könnten sinken, doch nein… Mein Gesichtsverlust ist größer als der Stress, den ich mir während der Aktion gemacht habe. Wie stehe ich denn jetzt da vor all den gaffenden Leuten am Ufer!? Ich staune, dass Petrus schon die Traute hat, öffentlich vor Jesus niederzufallen, um ihm einzugestehen, dass er ein Sünder sei. Ich dagegen würde mich am liebsten unsichtbar machen und stehe beschämt und wortlos etwas abseits. Dann höre ich verwundert, dass die Geschichte hier noch nicht zu Ende sein soll. Heute geht’s weiter, heißt es, wir werden gebraucht. Was kann Jesus mit Menschen, die weder erfolgreich noch besonders mutig sind, anfangen? – Um das herauszufinden, muss ich mit; Gedankenversunken laufe ich den anderen nach.

Prof. Dr. Dirk Sager
Professor für Altes Testament

Jahreslosung 2017

Gott spricht: Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. (Ez 36,26)

Ein neues Jahr – ein neues Herz

Noch einmal ganz neu anfangen – aber so, dass es wirklich funktioniert. Das wäre schön. Wie viele gute Vorsätze gibt es? Wie oft wollen Menschen ihr Leben ändern, es richtig machen, noch mal von vorne anfangen? Und dann geht es eine Weile gut bevor alte Muster wieder vorherrschend werden.

Diese menschliche Grunderfahrung spiegelt sich auch in der Jahreslosung. Das Volk Israel musste das Land verlassen, wurde vertrieben unter andere Völker. Gerade für diese Völker war dann deutlich: der Gott Israels hat versagt. Er ist ohnmächtig, denn er hat es nicht geschafft, sein Volk zu beschützen, vor dieser Katastrophe zu bewahren. So hat Israel den Namen seines Gottes entweiht. Hesekiel schreibt die Ursache der Katastrophe nicht Gott zu, für ihn waren die Menschen unfähig, die Gebote Gottes zu halten. Der Mensch: unverständig, uninteressiert, unfähig eine gesunde Beziehung zu Gott aufrecht zu erhalten. Das ist nach Hesekiel die Ursache für die Niederlage des Volkes und die Vertreibung ins Exil. Der Mensch: beziehungsunfähig. Dafür steht das alte Herz, ein Herz aus Stein, hart – kalt – tot, ohne Bewegung und Flexibilität, keine Liebe, keine Sehnsucht, nur Stillstand. „Für mich bist Du tot!“, so sagen wir, wenn für uns eine Beziehung endet. Auch hier wird deutlich, zwischen Gott und seinem Volk ist keine Beziehung mehr möglich. Ende. Aus.

Jetzt muss Gott aber dringend vor den Völkern „um seines Namens willen“ handeln. Nur indem er Israel rettet, kann er zeigen, dass er nach wie vor ein mächtiger Gott ist. Dazu hätte es genügt, das Volk wieder in sein Land zurückzuführen. Aber Gott tut weit mehr. Er stellt nicht nur „seinen Namen“ vor den Völkern wieder her. Er erbarmt sich. Die Liebe zu seinen Menschen überwältigt ihn. Er schenkt einen neuen Anfang, schafft wieder neues Leben. Da wo nur ein totes Herz aus Stein ist, schenkt er ein lebendiges, pulsierendes, fühlendes, denkendes und sehnendes Herz. Von sich aus ist der Mensch nicht in der Lage, seine Unfähigkeit zur Beziehung mit Gott zu ändern. Aber Gott geht über sich hinaus, versucht es noch einmal. Er selbst schafft nun im Menschen die Voraussetzung ihn zu lieben und ihm zu dienen. Er stattet den Menschen mit einem neuen Geist aus, einer neuen Gesinnung, einem erneuerten Willen, sich auf ihn zu beziehen und ihm zu dienen. So kann es nun gehen, kann eine dauerhafte Beziehung zwischen Mensch und Gott möglich sein. Ein neues Herz aus Fleisch: weich und warm, lebendig, pulsierendes Leben, Sehnsucht und Bewegung. Ein Mensch, dessen Herz sich nach Gott sehnt, der Gottes Willen gerne tun möchte und auch dauerhaft dazu in der Lage ist. Gott erbarmt sich, beschenkt den Menschen mit einem neuen Herzen und einem neuen Geist, geht über sich hinaus und stellt die Beziehung wieder her, damit der Mensch wieder neu lebendig wird.

Und doch kommt auch dieser Mensch wieder an seine Grenzen. Bis Gott letztlich in Christus noch einmal ganz anders über sich hinausgeht und den Menschen in seiner Liebe und seinem Erbarmen noch einmal ganz neu zur Beziehung mit ihm befähigt. Noch einmal schenkt er neues Leben und befähigt den Menschen durch seinen Geist, nach seinem Gebot der Liebe zu leben. Und wenn ich dann wieder an meine menschlichen Grenzen komme? Dann darf ich mit Psalm 51 beten „Schaffe in mir Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist.“

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

2016

Dezember 2016

Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen. (Ps 130,6)

Wohl jeder kennt sie, schlaflos durchwachte Nächte. Gedanken kreisen, die Seele findet keine Ruhe. Nöte und Ängste werden mit jeder Stunde größer und bedrohlicher. In der Dunkelheit der Nacht scheinen sie schier unüberwindbar. Ein Ausweg ist nicht in Sicht, an Schlaf ist nicht zu denken.
An dieser Stelle lohnt es sich den gesamten Psalm 130 anzuschauen, den Luther als 6. Bußpsalm bezeichnet hat. Aus der Tiefe ruft der Beter zu Gott (V.1). Er ist in größter Not. Aus dem Abgrund menschlichen Leids schreit der Beter zu Jahwe, seinem Gott. Vergebung ist nötig und Gott ist der Einzige, der ihm noch helfen kann. Mit seinem ganzen Sein hofft und harrt er auf den HERRN und seine rettenden Worte (V. 5-6).

Der Morgen steht als Symbol für den Neubeginn. Der Morgen mit der aufgehenden Sonne bildet den Kontrast zur Nacht mit ihrer Dunkelheit. Die Wächter über der Stadt haben diesen neuen Morgen herbeigesehnt. Der Morgen bedeutete für sie das Ende ihrer Arbeitsschicht, aber vor allem war dann die Zeit der größten Gefahren und Bedrohungen für ihre Stadt wieder vorüber.

Und so wie die Wächter auf der Stadtmauer nicht enttäuscht werden, weil Gott die Sonne wieder aufgehen lässt, so ist es auch die Zuversicht des Psalmbeters, dass Gott sich ihm wieder gnadenvoll zuwenden und ihn über kurz oder lang aus seiner tiefen Not erretten wird. An der wiederkehrenden Erfahrung der Nachtwächter, dass die Sonne jeden Morgen wieder neu aufgeht, macht der Beter seine Hoffnung fest, dass Gott sich ihm wieder neu zuwenden wird.

Dies gilt für Menschen, die wie der Psalmbeter aus der Tiefe ihres Lebens zu Gott rufen. Und gleichermaßen gilt dies auch für unsere Verfehlungen, die kleineren und größeren Sorgen, Nöte und Ängste, die uns den Schlaf rauben. Die Schrecken der Nacht verlieren im Morgengrauen des anbrechenden Tages ihre Bedrohlichkeit. Und unsere Zuversicht ist es, dass Gott sich uns über kurz oder lang wieder zuwenden und uns aus dem tiefen Abgrund unserer Seele wieder retten wird.

Stefanie Desamours
Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Mission und Diakonie und Sachbearbeiterin für Katastrophenhilfe im Dienstbereich Mission

November 2016

Umso fester haben wir das prophetische Wort, und ihr tut gut daran, dass ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint an einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen. (2. Petrus 1,19)

Wenn der Morgenstern aufgeht, als hellstes Einzelgestirn am Nachthimmel sichtbar wird, dann ist der Tag nicht mehr fern. Dann wird auch bald die Sonne aufgehen und es wird wieder hell und warm. Wenn dieser Stern am Himmel erscheint, muss keiner mehr lange auf den Tag warten. Dann schwindet die Angst vor Dunkelheit und Kälte. Bald lebt die Natur wieder auf und der Horizont weitet sich.

Warten auf den Tagesanbruch. Warten darauf, dass der Tag anbricht, an dem Gott einen Retter und Befreier für sein Volk schickt, an dem Gott selbst die Herrschaft antritt und alles gut wird. Dieses Warten durchzieht die alten Prophezeiungen. Die frühen Christinnen und Christen kannten dieses prophetische Wort, die Verheißung eines Retters und Befreiers. Die frühen Christen kannten noch die alte Zeit des Wartens auf den Retter. Eine Zeit, geprägt von Verzweiflung über Ungerechtigkeit, geprägt von vielen Jahren, in denen Gott scheinbar geschwiegen hatte. Wo blieb der verheißene Retter? Eine Zeit, in der Hoffnungslosigkeit sich breit machte und die Nacht scheinbar kein Ende nahm.

Die frühen Christen kannten dann aber auch die Erzählungen von diesem besonderen Ereignis auf einem Berg. Die Erzählung von Jesus und der Stimme, die plötzlich hörbar war. „Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich meine Freude habe.“ (vgl. 1.Petrus 2,16- 18) Manche von ihnen hatten es selbst noch erlebt. Für sie war klar: Jesus ist der von Gott versprochene Retter und Befreier seines Volkes. Gott selbst hat ihn bestätigt. Das wurde zu ihrer Botschaft, ihrem Evangelium: Jesus Christus, Gottes Sohn und Retter.
Das Warten hatte für sie ein Ende. Erst einmal. Denn sie waren ja nicht nur Zeugen seiner Gottessohnschaft, seines Lebens und Sterbens, sie waren auch Zeugen und Zeuginnen seiner Auferstehung und seines Weggangs zum Vater. Und schon wieder war eine Zeit des Wartens angebrochen.

Die frühen Christinnen und Christen warteten auf das Zurückkommen ihres Herrn. So wie er sich verabschiedet hatte, so erwarteten sie ihn wieder. Heute? Vielleicht morgen? Vielleicht schon heute Nacht? Doch langsam werden Stimmen laut: „Wo bleibt denn euer Jesus? Hat er nicht versprochen wieder zu kommen. Hat er nicht versprochen die Herrschaft anzutreten und dem Bösen ein Ende zu setzen? Das sind doch alles Märchen!“ Woher sollen sie jetzt die Hoffnung nehmen, dass Gott der Ungerechtigkeit ein Ende setzen wird, dass das Dunkel endet und es einmal Tag sein wird?

Woher Hoffnung nehmen? Der Petrusbrief nimmt sie aus den Berichten der Augenzeugen der Verklärung Jesu. Dort hat sich bestätigt, dass Jesus der verheißene Retter ist. So hat sich das prophetische Wort, als Wort Gottes von der Rettung und Befreiung, von der Liebe Gottes zu seinen Menschen, bestätigt. Jesus, die Mensch gewordene Liebe Gottes, Jesus, den Gott als den Christus bestätigt hat, ist gekommen und er wird wiederkommen. Das steht fest. Darauf können alle vertrauen. Dieses Wort ist wie ein Licht, dass im Dunkeln Orientierung gibt. Schon der Morgenstern, der eigentlich „nur“ den Tag ankündigt, kann Hoffnung schenken und ein Vertrauen, das die Realität im Hier und Jetzt in das Licht der Liebe Gottes taucht.

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

Oktober 2016

Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. (2. Kor 3,17)

Die beiden sind unzertrennlich: Der christliche Glaube und die Freiheit. Schon vom ersten Moment an gehören sie zusammen. Denn wo ein Mensch zum Glauben kommt, da kommt zuvor der Geist des auferstandenen Christus zum Menschen. Und dieser Geist befreit den in sich selbst verschlossenen und gefangenen Menschen für Gott. Nicht durch Zwang oder Angstmacherei geschieht das. Sondern durch die Macht der Liebe Gottes. Diese Liebe eröffnet dem geliebten Gegenüber Raum: Freiraum zum Leben. Darum kann und darf niemand zum Glauben gezwungen werden. Wollte man es dennoch versuchen, so käme nichts anderes dabei heraus als Heuchelei. Ein geheuchelter Glaube aber ist nichts anderes als – gar kein Glaube.

Den Freiraum zum Leben, der sich einem Menschen durch den Glauben an Christus auftut, bewohnt man nie allein. Es ist vielmehr das innerste Geheimnis christlicher Freiheit, dass Gott sein zur Freiheit berufenes Geschöpf begleitet. Ja, gerade diese enge Gemeinschaft des Menschen mit seinem Schöpfer und Befreier ist es, die die christliche Freiheit so beglückend macht. Hier nämlich gilt in Anlehnung an ein Wort des Theologen Karl Rahner, dass Abhängigkeit von Gott und menschliche Selbständigkeit und Freiheit im gleichen, nicht im umgekehrten Maße wachsen. In der liebevollen Beziehung zu Gott wird der Mensch durch Gottes Geist auf eigene Füße gestellt. Der Mensch darf selber glauben, lieben und hoffen. Und er soll das auch. Doch all das tut er nun eben „geistlich“, in der Verbindung zum lebendigen Christus durch den Heiligen Geist.

Weil aber dieser lebendige Herr immer auch der Herr seiner Gemeinde ist, teilt ein glaubender Menschen seinen Freiraum mit der Gemeinschaft der Glaubenden. Christsein kann man nur in der „Gemeinschaft der Freien“. Die aber ist kein Selbstzweck. Ihre geistgewirkte Freiheit ist im Kern eine Freiheit für Andere. Die christliche Gemeinde verschließt sich nicht. Sie macht ihre Tore weit und ihre Herzen noch weiter. Damit Menschen hineingeholt werden in die schöne Freiheit Gottes und so die Freiheit wächst.

Prof. Dr. Volker Spangenberg
Professor für Praktische Theologie

September 2016

Gott spricht: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte. (Jer 31,3 nach der Lutherübersetzung)

Eine wunderbare Liebeserklärung Gottes – allerdings nicht direkt an uns, die wir als Christen heute dieses Wort lesen, sondern zunächst an das jüdische Volk. In einer Liebe, die nur in Gott selbst begründet ist, hat Gott dieses Volk ausgesucht und sich mit ihm vermählt wie ein Bräutigam mit seiner Braut. Das Volk hat Gottes Liebe aber nicht auf Dauer erwidert, sondern ist ihm untreu geworden – indem es anderen Göttern diente und die Weisungen Gottes missachtete.

Diese Untreue war ein Scheidungsgrund, und Gott hat Israel entlassen. Als Folge davon wurde das Heilige Land von Feinden erobert, die Stadt Jerusalem zerstört, der Tempel Gottes verbrannt und die Führungsschicht des Volkes umgesiedelt. Da wurde dem Volk klar, was es getan hatte, und es bereute seine Untreue. Aber was würde nun Gott tun? Wäre er bereit, sein Volk wieder anzunehmen?

In dieser Lage las das Volk Worte, von denen es gewiss wurde, dass Gott sie schon vor Beginn alles Unheils dem Propheten Jeremia übergeben hatte: „Ich habe dich je und je geliebt“. Ich habe dich immer geliebt, auch damals, als Du mir untreu geworden warst und mich verlassen hast. Deine Liebe zu mir war zwar erloschen, aber meine Liebe zu Dir nicht.

Darum ist Gott bereit, seine Braut, die fremdgegangen ist, wieder aufzunehmen und die Liebesgeschichte mit ihr fortzusetzen. Weil er sein Volk mit ewiger Liebe geliebt hat, darum hat er ihm auch seine Güte bewahrt (so unser Vers in der Elberfelder Übersetzung). Die Lutherübersetzung sagt: Gott hat das Volk aus Güte zu sich gezogen. Das Volk, das ihn verstoßen hatte, das hat er lieb behalten und hat es wieder in die Arme genommen, als es umkehrte.

Einen solchen Gott bezeugt uns die Bibel: Einen Gott, der nicht nur Israel, sondern auch uns liebbehält, selbst wenn wir ihn enttäuscht haben. Er wartet auf uns mit offenen Armen.

Prof. Dr. Uwe Swarat
Systematische Theologie und Dogmengeschichte

August 2016

Habt Salz in euch und haltet Frieden untereinander! (Mk 9,50)

„Endlich wieder zuhause in Kapernaum“, denken die Jünger Jesu. Als sie aber so vertraut im Haus sitzen, bricht unter den Jüngern Streit aus, wer von ihnen am wichtigsten sei. Da redet Jesus mit ihnen Klartext. Am Ende seiner Rede fordert er sie auf, auf ihr eigenes Leben zu achten, damit nichts sie vom Weg mit Jesus abbringe. Wer mit Jesus auf diesem Weg ist, der ist ganz gefordert. Das Ziel des Reiches Gottes ist so wertvoll, dass es sich lohnt, sein eigenes, von vielen Egoismen gesteuertes Leben zu begrenzen, um wirklich konzentriert auf das Reich Gottes zuzugehen.

In diesem Sinne ist das Schlusswort Jesu in Kapernaum gemeint. Schon beim alttestamentlichen Kult wurde Salz zur Reinigung auf die Schlachtopfer geschüttet. Bei Jesus geht es nicht um irgendwelche Tieropfer, sondern um unser Leben. Auf dem Weg mit Jesus gilt es, auf sein eigenes Herz achten und es rein halten, genau dies drückt das Wort aus: „Habt Salz in euch“. Wir brauchen dieses „Salz" in uns, um unsere egoistischen Motive und Gedanken immer wieder zu überwinden.

Was ist nun dieses „Salz“? In der jüdischen Frömmigkeit der Zeit damals wurde die Thora, das jüdische Gesetzbuch, als Salz bezeichnet, also als das Gotteswort, das reinigt und stärkt. Das Lebenswort der Jesusjünger ist jetzt Jesu Wort. Jesus fordert seine Jünger auf, seine Worte als reinigende Kraft in ihrem Leben wirken zu lassen. Nur dann wird es ihnen gelingen, Frieden untereinander zu halten. Die gemeinsame Zeit in Kapernaum begann mit Streit unter den Jüngern, und am Ende seiner Rede ruft Jesus sie zum Frieden. Diesen Frieden können sie und wir nur leben, wenn wir uns, in allem Gerangel untereinander, durch das Wort Jesu immer wieder infrage stellen und neu ausrichten lassen.

Bei diesem Salzwort Jesu geht es also um den Frieden in Kirchen und Gemeinden, der nur möglich ist, wenn wir Jesus jeden Tag neu in unser Leben sprechen lassen. Durch die Wirkung seines Wortes erkennen wir uns selbst, auch in unseren Fehlern; so können wir demütig und liebevoll bleiben im Umgang untereinander.

Prof. Dr. Michael Kißkalt
Rektor und Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle Theologie

Juli 2016

Der Herr gab zur Antwort: Ich will meine ganze Schönheit vor dir vorüberziehen lassen und den Namen des Herrn vor dir ausrufen. Ich gewähre Gnade, wem ich will, und ich schenke Erbarmen, wem ich will.  (2.Mo/Ex 33,19)

Gerade erst hat Mose im Gespräch mit Gott gefordert: „Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen.“ (V.18). Und Gott lässt sich auf Moses Bitte ein. In seiner ganzen Schönheit will er sich zeigen, allerdings nur im Vorbeigehen, denn niemand kann Gott ins Angesicht sehen, ohne zu sterben (V.20).

Wie gerne würden auch wir einmal einen Blick auf Gottes Herrlichkeit werfen, einmal unverhüllt seine Schönheit sehen. Aber so wie Mose erhalten auch wir nur einen indirekten Eindruck von Gottes Größe und Macht. Auch wir dürfen ihm im Vorbeigehen nachschauen, entdecken, wo er sich gezeigt und seine Spuren hinterlassen hat.

Gott zeigt sich noch immer in gleicher Weise. Seine Schönheit und Herrlichkeit wird sichtbar, wo er Gnade gewährt und Erbarmen geschenkt hat. Nicht, weil er es müsste, sondern weil das sein Wesen ist, seine Güte, seine Barmherzigkeit. Gott zeigt sich in seiner Schönheit, wo seine Gnade stärker ist als alle Sünde, wo er uns erbarmungsvoll annimmt, obwohl wir genau das nicht verdient haben. Gott zeigt sich in seiner Herrlichkeit, wo er das Urteil über alle Sünde der Welt auf sich selbst nimmt, um die Menschheit zu erlösen. Gottes wahres Wesen sehen wir dort, wo wir den Blick auf den Gekreuzigten richten, der unsere Sünde und Schuld tilgt.

Gottes Schönheit ist seine Gnade und seine Herrlichkeit ist sein Erbarmen. Wo uns das klar wird, haben wir entdeckt, was wir von Gottes Wesen erfahren können. Und wo wir erbarmungsvoll und gnädig handeln, da spiegelt unser Leben ein wenig von Gottes Schönheit und Herrlichkeit in dieser Welt wider.

Prof. Dr. Ralf Dziewas
Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie

Juni 2016

Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden. (2. Mose 15,2)

Was für ein Lied! Es klingt nach Weite und Befreiung, nach Vertrauen und neuer Zuversicht. Es klingt nach einer guten und sehr persönlichen Erfahrung: meine Stärke – mein Lied – Retter für mich. Es ist ein besonderes Lied, kein Lied für alle Tage. Noch nicht.

Den Hintergrund des Liedes bildet die Erfahrung eines ganzen Volkes:
„Damals sang Mose mit den Israeliten dem Herrn dieses Lied; sie sagten: Ich singe dem Herrn ein Lied, denn er ist hoch und erhaben. Rosse und Wagen warf er ins Meer. Meine Stärke und mein Lied ist der Herr, er ist für mich zum Retter geworden. Er ist mein Gott, ihn will ich preisen; den Gott meines Vaters will ich rühmen.“

Rosse und Wagen warf er ins Meer. Ist das eine Situation in der ein Lied angestimmt werden kann? Darf man sich darüber freuen? Was genau wird hier besungen? Hier erklingt kein Siegeslied. Kein lautes Geschrei der Sieger, die sich am Tod der Verlierer erfreuen. Hier singt keine siegreiche Armee starker Männer. Hier singen Familien. Kinder, alte Menschen, Väter, Mütter, Schwestern, Brüder, Großeltern und Enkel. Menschen, die hart gearbeitet haben, die manchmal gerade eben noch überlebt haben und jetzt in diesem Moment ihren Unterdrückern entkommen sind. Hier singen die befreiten Opfer. Ein Chor ehemaliger Sklaven. In den Zwischentönen ihres Liedes klingt noch die Verzweiflung der bitteren Jahre nach, die der Rettung vorausgegangen sind. Leid, Bedrängnis, Angst, Schmerzen, schwere Arbeit, Ungerechtigkeiten – all das klingt noch mit. Aber nun gehört es der Vergangenheit an. Sie sind frei, befreit worden. Jetzt beginnt etwas Neues. Und die ersten Schritte in Freiheit sind noch sehr unsicher.

Doch der Gott, der mit starker Hand befreit hat, geht mit. Daher kann jede einzelne Person im Volk singen: Meine Stärke. Die erlebte Befreiung in der Vergangenheit gibt Sicherheit im Hier und Jetzt. Die neu gewonnene Freiheit lässt den Atem weit werden und die Stimme wieder klingen und singen: Mein Lied. Die Erfahrung der Rettung bleibt und wird die Israeliten stärken. Die erlebte Befreiung in der Vergangenheit wird zur Hoffnung auf eine Zukunft in Freiheit und die Gegenwart wird als ein neu geweiteter Raum erlebt. Ein weiter Raum, in dem Gott gegenwärtig ist als bleibender Retter. Das hilft gegen die Angst vor der ungewissen Zukunft: Mein Retter.

Der Chor der befreiten Sklaven singt: Meine Stärke, mein Lied, mein Retter. Dieses Lied, in einer besonderen Situation angestimmt, bleibt. Wird immer wieder gesungen. Zur Erinnerung an den Gott, der kompromisslos auf der Seite der Opfer steht. Es ist nicht das Lied der Sieger – es ist das Lied der befreiten Opfer. Es ist das Lied von dem Gott, der befreit hat und befreien wird.

Wenn wir es heute singen, klingt auch das Lied von dem Gott mit, der sich selbst zu Opfer gemacht hat, um alle Menschen zu befreien. Klingt das Lied von dem Gott mit, der auch heute noch solidarisch an der Seite der Opfer steht. Das Lied von dem Gott, der befreit hat und befreien wird. Es ist ein persönliches Lied, aber auch ein Lied des Volkes, also durchaus politisch, wenn es um die Befreiung aus ungerechten Strukturen und Verhältnissen geht.

Es bleibt ein besonderes Lied, aber jetzt ist es auch ein Lied für alle Tage. Besonders für die engen, angstvollen Tage, denn es erinnert an die Weite. Besonders für die leichten, gelassenen Tage, denn es erinnert daran, dass diese ein Geschenk sind. Besonders für die schwachen Tage, denn es erinnert daran, dass die Stärke nicht aus uns kommt. Besonders für die guten Tage, denn es erinnert an den, dem wir sie verdanken: Meine Stärke - mein Lied - Retter für mich.                              

Prof. Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie

Mai 2016

Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wohnt und den ihr von Gott habt? Ihr gehört nicht euch selbst (1Kor 6,19)

„Körpersorge“ – ein Wort das nicht im Duden steht. Anders als der Seelsorge, der Sorge für die Seele, wird dem Leib theologisch nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. So muss es auch einigen Christen in der korinthischen Gemeinde gegangen sein. Es war ihnen nicht fremd, ihre Sexualität mit Prostituierten auszuleben. „Körpersorge“ wäre auch für sie ein Fremdwort gewesen und ihr Leib war für ihren Glauben ein „Fremd-Körper“. Bei dieser Situation setzt Paulus ein. Für ihn ist der Leib des einzelnen Christen Besitz Gottes. Durch den stellvertretenden Sühnetod Jesu am Kreuz hat Gott nicht nur das Heil für die Menschen aufgerichtet, sondern auch den Leib der Christen und Christinnen als Eigentumswohnung für seinen Heiligen Geist erworben. Hätten die Angesprochenen vielleicht mit dem Slogan argumentiert: „Mein Körper gehört mir!“ – so setzt Paulus dem entgegen: „Ihr gehört nicht mehr euch selbst.“ Dies betrifft nicht nur unsere Sexualität. Der Leib als Tempel des Heiligen Geistes hat Konsequenzen: Nicht nur mit Lobliedern und Psalmengesängen ist Gott zu loben, sondern mit ganzem Leibe. Anders ausgedrückt: Nicht nur unsere Stimmbänder gehören Gott, sondern alle Körperteile. Es ist ein Fehler, dass die christliche Tradition durch die Jahrhunderte hindurch viel zu oft die Seele gegen den Leib ausgespielt hat. Körper- und Sexualitätsabwertung sind dann die Folge. Doch Leib und Seele gehören zusammen. Schon jetzt ist es gute Praxis des Glaubens, dass wir für Menschen mit körperlichen Einschränkungen und Gebrechen beten. Jesu Heilungen sind ein Sinnbild hin auf die Ewigkeit. Für unsere Auferstehung dürfen wir auf einen verwandelten und verklärten Leib hoffen (1Kor 15,42-49). Wer seinem Körper schon jetzt etwas Gutes tun will, der kann den Schwung des Monats Mai nutzen und zur Ehre Gottes und zum Wohle des Körpers Sport treiben. Wer dagegen ohnehin schon durch das Leben rennt, der mag einmal innehalten und sich der Frage stellen, wo denn konkret Gottes Geist in seinem Körper und in seinem Leben wohnt. Christliche Sorge für Seele und Leib wird sich dabei ungnädigen Perfektheitsidealen widersetzen und dem Geist Gottes Lebensraum geben. So oder so, ob wir uns äußerlich oder innerlich bewegen und in Bewegung setzen lassen: „Körpersorge“ wird unserem Leib als Tempel des Heiligen Geistes Gutes tun.

Prof. Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament

April 2016

Berufen zur Verkündigung des Evangeliums, nicht zum religiösen Individualismus

Ihr aber seid das auserwählte Geschlecht, die königliche Priesterschaft, das heilige Volk, das Volk des Eigentums, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht. (1Petr 2,9)

Ich habe noch nie einen König gesehen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass ich einmal einem König begegnen würde, wäre ich zwar möglicherweise neugierig. Als Kind einer demokratischen Gesellschaft würde ich aber nicht wirklich empfinden können, was es heißt, Untertan eines Herrschers zu sein. Ich habe gar kein Gespür für das, was die ehrfurchtgebietende Würde des Königs, seine „Erhabenheit“ oder „Majestät“, ausmacht. Ähnlich steht es mit dem Priestertum. Ich gehöre einer christlichen Gemeinde an, der die Vorstellung von einem aus der Schar der Gläubigen ausgesonderten Priester, der durch eine geheimnisvolle Vollmacht zwischen Gott und den Menschen vermittelt, völlig fremd ist.

Allerdings kommen Priester in unserem Alltag nicht ganz so selten vor wie Könige. Einmal öffnete ich in einer alten Kirche die Tür zu einer Seitenkapelle, die ich besichtigen wollte. Plötzlich stand ich direkt vor einem Bischof in vollem Ornat, der gerade im Begriff war, aus der Kapelle in das Kirchenschiff zu treten. Unwillkürlich spürte ich einen winzigen Augenblick lang eine ferne Ahnung von jenem geheimnisvollen Schauder, wie ihn vielleicht einst die Israeliten im Tempel von Jerusalem empfanden, wenn sie aus dem Vorhof einen Blick auf die Priester mit ihren heiligen Gewändern und heilsvermittelnden Ritualen werfen konnten. Der Bischof, ein freundlicher älterer Herr, war übrigens genauso verdutzt wie ich. Er hielt mir seinen Ring zum Kuss hin, aber ich murmelte entschuldigend, ich sei evangelisch und machte mich höflich aus dem Staube.

So wie ein König nur dadurch König ist, dass alle anderen Untertanen sind, ist ein Priester nur dadurch ein Priester, dass alle anderen ohne seine Mittlerschaft keinen Zugang zum Heiligen haben. Evangelischen Christen ist die Formulierung „allgemeines Priestertum“ so geläufig, dass sie oft überhören, dass es sich um ein Paradox handelt, ebenso wie ein „allgemeines Königtum“ eine widersinnige Staatsverfassung wäre. Und in der Tat wäre die Rede vom allgemeinen König- und Priestertum aller Christen widersinnig, wenn sie bedeuten würde, dass jede und jeder Einzelne als religiöse Selbstversorger ihrem eigenen Kopf folgen sollen. Eine königliche Priesterschaft sind die Christen nur deshalb, weil Christus ein König und Priester ist. Die Aufgabe der christlichen Kirche ist nicht die Verkündigung einer Theorie der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aller Menschen, sondern die Verkündigung der Alleinherrschaft des Königs Christus und der alleinigen Mittlerschaft des Priesters Christus.

Dennoch wurde in der baptistischen Tradition die biblische Rede vom königlichen Priestertum häufig mit dem modernen Begriff „geistliche Demokratie“ übersetzt und mit dem aktiven Eintreten für Freiheit und Gleichheit aller Menschen verbunden: Christi Königtum und Priestertum besteht nämlich nicht in Unterwerfung und Entmündigung, sondern darin, dass er alle, die zu ihm gehören, zu seinen Teilhabern macht. Er ist ein König, der alle seine Untertanen krönt. Er ist ein Priester, der alle aus seinem Volk mit sich hineinnimmt ins Heiligtum. Deshalb ist die Gemeinde berufen, die Gleichheit aller Gläubigen in die Lebenspraxis umzusetzen und keine Bevormundung durch menschliche Autoritäten in Glaubensdingen zu dulden. Deshalb sind Christen berufen, in ihren jeweiligen gesellschaftlichen Kontexten, und seien sie bedrückend, anderen zum Vorbild „als die Freien“ zu leben, denen niemand Würde und Freiheit rauben kann.

Prof. Dr. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte und Leiter der Bibliothek

März 2016

Jesus Christus spricht: Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe! (Joh 15,9)

Als Teil der Weinstockrede Jesu gehört dieser Vers in den Kontext der Abschiedsreden Jesu an seine Jünger. Darin bereitet er seine Nachfolger auf die Zeit vor, in der er nicht mehr leiblich gegenwärtig ist. In den vorausgehenden Versen wählt Jesus einen bildlichen Vergleich, um deutlich zu machen, wie wichtig es ist, dass seine Jünger in ihm bleiben. Nur eine Rebe, die fest mit dem Weinstock verbunden ist, bringt Frucht (V.4-5) und verherrlicht dadurch den Vater (V.8).
Ohne Zweifel ist die Bildrede vom wahren Weinstock von ermahnenden Elementen geprägt. Die Beschreibung dessen, was mit den fruchtlosen Reben geschieht, ist sehr eindrücklich (15,6). Und mehrfach fordert Jesus seine Jünger ganz direkt auf: „Bleibt in mir“ (V.4); „Bleibt in meiner Liebe“ (V.9); „Dies gebiete ich euch, dass ihr einander liebt“ (V.17).

Die Zielrichtung dieser Rede Jesu liegt aber nicht allein in der Ermahnung. Jesus erinnert seine Jünger ebenso deutlich daran, wie sehr er sie liebt: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt.“ Die Liebe zwischen Gott und seinem Sohn ist das Maß der Liebe, mit dem sich Jesu Jünger damals und heute geliebt wissen dürfen. Diese Liebe Jesu ist mit seinem leiblichen Scheiden aus dieser Welt keine Vergangenheit. Sie ist nicht abgeschlossen, wie man aufgrund der Vergangenheitsform „ich habe euch geliebt“ in deutschen Bibelübersetzungen annehmen könnte. Im Griechischen kann und will der Evangelist Johannes durch eine bestimmte Vergangenheitsform genau das Gegenteil ausdrücken: Sowohl die Liebe Gottes zu Jesus als auch die Liebe Jesu zu seinen Jüngern damals und heute ist eine bleibende Wirklichkeit.

Mit der Erinnerung daran, dass Jesu Liebe bleibt, dass sie wirklich und real ist, auch wenn er zurückkehrt in die Ewigkeit zum Vater – mit dieser Erinnerung tröstet Jesus seine Jünger kurz vor seinem Tod am Kreuz im Blick auf den Schmerz und die Trauer, die ihnen bevorstehen. Und ebenso dürfen wir uns als Nachfolgerinnen und Nachfolger Christi heute von ihm zusprechen lassen: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt“ – als ein Wort des Trostes und der Ermutigung inmitten der Passionszeit und im Blick auf Karfreitag, auf den wir als Gemeinschaft der Glaubenden zugehen.

Es kann uns aber auch ein Wort des Trostes werden in Zeiten persönlicher Krisen, in denen Gott so unendlich weit weg zu sein scheint – in denen wir uns wie abgetrennt vom Weinstock fühlen. Denn auch in der Weinstockrede geht allen Aufforderungen eine Zusage Christi voraus. Christus hat uns zuerst geliebt. Er hat uns zuerst erwählt (V.16). Er nennt uns Freunde (V.15). Das ist die bleibende Wirklichkeit, auch wenn unser Gefühl uns etwas Anderes sagt. Gefühle können täuschen und deswegen sind wir eingeladen, in Jesus zu bleiben, durch Gebet (V.7), durch Festhalten an seinem Wort und den Geboten (V.7.10), und besonders durch die Liebe zueinander (V.12-13). Er lädt dazu ein, nicht damit wir, sondern weil wir durch all dies Frucht bringen. Denn die Bitte zu Gott – gerade auch die klagende und flehende Bitte oder die Fürbitte durch Glaubensgeschwister –, oder das verzweifelte Suchen nach einer Ansprache Gottes in seinem Wort – das ist Bleiben in seiner Liebe. Manchmal ist es ein Festhalten an der Liebe Gottes gegen das eigene Gefühl bis die ewig gültige Zusage Jesu wieder das eigene Herz erreicht: „Wie mich der Vater liebt, so liebe ich Dich!“
   
Christian Wehde
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Neues Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

Februar 2016

„Und wenn ihr beten wollt und ihr habt einem anderen etwas vorzuwerfen, dann vergebt ihm, damit auch euer Vater im Himmel euch eure Verfehlungen vergibt.“ (Markus 11,25)

Der Glaube an Christus rettet allein, zu dem wir jederzeit nach freiem Herzen beten dürfen. Dieser Satz liest sich wie selbstverständlich und doch wirkt es in diesem Text so, als werden diese zwei Grundpfeiler des christliches Glaubens an Bedingungen geknüpft. Wer beten und Vergebung will, soll erst einmal selbst dem Anderen vergeben. Es hat eben doch alles seinen Preis!  -  Warum empört uns dieser Gedanke so? Eigentlich ist uns das christliche Prinzip, es mit seinem Nächsten (auch seinen Gegnern!) gut zu meinen ja schon hinreichend bekannt. Das Gebot der Feindesliebe (Mt 5, 43-48) ruft uns dazu auf unsere Feinde zu segnen statt zu hassen und noch deutlicher beten wir im Vater Unser:  „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Mt 6,12). Inhaltlich liegt der einzige Unterschied wohl darin, dass die Stellen in Matthäus wie Ratschläge oder Aufforderungen wirken. Sie scheinen weniger radikal, da keine direkten Konsequenzen genannt werden. Überspitzt gesagt: Hier darf man über den Inhalt nicken, ohne ihn wirklich ausführen zu müssen. Dagegen lässt uns Markus 11,25 keine Wahl und macht zwei Dinge sehr deutlich:

1. Das Gebet ist keine Einbahnstraße, die bei uns beginnt und bei Gott endet.
Stattdessen sollen in der Gemeinschaft mit Gott auch wir selbst immer wieder angesprochen werden und uns und unser Handeln hinterfragen. Vergeben wir, wo wir um Vergebung beten? Verändern wir, wo wir um Veränderung beten? Unser Gebet soll auch Anspruch an uns selbst sein.

2. Das Gebet führt in die Gemeinschaft mit anderen Menschen.
Auch das privateste und intimste Gebet mit Gott hat unsere Mitmenschen im Blick. Wer sein Gebet im Zorn gegen den Nächsten missbraucht, der betet nicht recht. Stattdessen beinhaltet die Gemeinschaft mit Gott auch den Willen zur liebevollen Gemeinschaft mit den Menschen.
Dieser radikale Aufruf zur Vergebung, zur Veränderung und zur Gemeinschaft kann auf einer seelsorgerlichen Ebene jedoch sehr verstörend sein. In Momenten tiefster physischer oder psychischer Verletzungen  scheint es makaber, wenn das Opfer auch noch zusätzlich um die Vergebung Christi bangen muss, nur weil es nicht vergeben kann. Eine solche Auslegung wäre nicht nur unbarmherzig, sondern auch unbiblisch. Wer momentan nicht vergeben kann wird hier nicht dazu genötigt durch ein erzwungenes Lippenbekenntnis seine eigene Haut zu retten. Vielmehr kann es nur die Kraft Christi bewirken, dass wir vergeben können. Manchmal von einem Moment auf den Anderen, manchmal in langen, schmerzhaften Prozessen. Doch auch das leidvolle oder klagende Gebet „Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?“ (Psalm 13,3) kann ein Schritt zur Leidbewältigung und ein Schritt hin zur Vergebung sein. Darum sollen wir beständig in dieser Haltung weiter beten, dass Gott auch uns im Gebet verändern will. Denn so passiert es, ohne dass wir es gleich merken, dass das Gebet unseren Nächsten und die Welt verändert, aber am allermeisten uns selbst.
                 
Markus Höfler
Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Rektoratsassistent

Januar 2016

Gott hat uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit (2Tim 1,7)

Manche Situationen sind einfach zum Verzweifeln! Von Verzagtheit ist hier im Brief an Timotheus die Rede. Timotheus ist der engste Mitarbeiter des Apostels Paulus. Gleich mehrfach wird er mit anstrengenden Aufgaben betraut. So musste er die Gemeindeglieder in Thessalonich stärken und sie im Glauben ermahnen (1Thess 3,2), als sie angesichts schwer einzuordnender Trauerfälle ratlos sind. Später soll Timotheus nach Korinth reisen, um in der dortigen Gemeinde daran zu erinnern, was der Apostel gelehrt hatte (1Kor 4,17). Was mochte ihn in Korinth wohl erwarten, wo manche sich recht aufgeblasen über die Abwesenheit des Paulus freuen – frei nach der Devise: „Der Himmel ist hoch und der Apostel ist weit; alles ist mir erlaubt!“ Schlägt dem Paulus schon aus der Ferne Hochmut seiner Gegner entgegen, wie würde es erst seinem Gesandten vor Ort ergehen? Da kann einem schon angst und bange werden. Bereits aus diesen wenigen Hinweisen entsteht ein Bild: Timotheus ist ein Mitarbeiter für schwierige Missionen. Wenn Paulus selbst nicht eingreifen kann, dann sendet er diesen Mann, den er sogar als seinen Sohn bezeichnet (1Tim 1,2 vgl. Phil 2,19-24). Ob der die schwierigen Situationen immer gut meistern konnte, wissen wir nicht. Das Stichwort Verzagtheit deutet eher in eine andere Richtung. In dem ermutigenden Wort des Paulus spiegelt sich ein Mitarbeiter, dem angesichts großer Herausforderungen die Kraft schwindet, der nicht weiß, wie es weitergehen soll und der an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen sein mag. Ja, seiner Möglichkeiten und Kräfte. Aber eben nicht Seiner Kraft. Paulus erinnert seinen Mitarbeiter daran, dass die unerschöpfliche Quelle an Kraft, Liebe und Besonnenheit außerhalb unserer selbst liegt. Gott wird uns davon geben, immer wieder neu und frisch. Er will und wird unseren Mangel ausgleichen, so wie Jesus Christus die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft, um sie zu erfrischen. Gottes Erfrischungen für Leib, Seele und Geist dürfen wir für jeden Tag neu erbitten. Dies können wir uns mit dem Wort des Paulus an Timotheus zusprechen lassen – oder es mit der Ermutigung eines Propheten einander zusingen: „Seid nicht bekümmert, denn die Freude am Herrn ist eure Stärke“ (Neh 8,10).

Dr. Carsten Claußen
Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

Jahreslosung 2016

Gott spricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet (Jes 66,13)

Dieser zur Jahreslosung für das Jahr 2016 gewählte Vers steht in einem Kontext von Versen, die alle Gottes Heilshandeln mit weiblichen Bildern beschreiben: Eine Frau bringt einen Sohn ohne Wehen zur Welt (V.7). Ein ganzes Volk wird geboren, noch bevor die Wehen einsetzen (V.8). Dabei betätigt sich Gott selber als Hebamme, die für eine gute Geburt sorgt (V.9). Die darauf folgende Freude wird mit einem Baby verglichen, dass aus der Mutterbrust Trost und Nahrung saugt und sich an der Muttermilch satt trinken kann (V.10f). Und wie Kinder auf den Armen genommen und auf den Knien geschaukelt werden möchten (V.12), wenn ihnen etwas fehlt, so will Gott selbst Trost spenden. Eben wie es eine Mutter tut, die ihre Kinder tröstet und beruhigt (V.13).
Mit ihrer mütterlich-weiblichen Bilderwelt bieten diese Verse am Ende des Jesajabuches eine wichtige Ergänzung zu den ansonsten eher maskulin geprägten Gottesbildern der Bibel. Der, der sich um sein Volk sorgt, ist nicht nur ein starker Herrscher und ein machtvoller Souverän. Er kann auch ganz nahbar und weich sein, ganz liebevoll und Trost spendend. Während viele männliche Sinnbilder eher die Unnahbarkeit und Autorität Gottes symbolisieren, finden sich hier weibliche Bilder vom Gebären, Trösten und Ernähren. Sie erinnern uns an Urerfahrungen unserer frühesten Kindheit: Die Mutterbrust, die unseren Hunger stillte, die Wärme und der beruhigende Herzschlag unserer Mutter, an die wir uns kuscheln durften, wenn wir aus Albträumen aufwachten. Arme, die uns hochhoben und nach Hause trugen, wenn wir hingefallen oder müde waren, oder die Knie, auf denen wir Hoppe-Hoppe-Reiter spielen konnten, auch das sind Bilder für Gott und seine Art, uns tröstend nahe zu kommen.
Diese Verse sind in einer Zeit verfasst worden, in der nur Männer die Theologie Israels schrieben. Und so ist es kein Wunder, dass sie für Aussagen über Gott meist männliche Bilder verwendeten. Umso bemerkenswerter aber sind Verse wie die diesjährige Jahreslosung. Hier zeigt sich, dass sich Israel sehr wohl bewusst war, dass ihr Gott kein starker Mann im Himmel ist. Es gehörte zu Israels Glaubenstraditionen, dass ihr Gott Männer und Frauen in gleicher Weise als göttliches Ebenbild erschaffen hatte und daher auch in weiblichen Bildern angemessen beschrieben werden konnte. Gottes Wirken ist auch für uns heute väterlich-mütterlich oder brüderlich-schwesterlich deutbar, je nachdem, welche Erfahrungen wir mit Vater, Mutter und unseren Geschwistern verbinden. Bei wem auch immer wir in unserem Leben Trost und Güte erlebt haben, wer auch immer uns Halt und Sicherheit geschenkt hat, als wir Trost und Schutz brauchten, darf für uns ein Sinnbild für diesen tröstenden und liebenden Gott sein, der uns zuspricht: Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. Und wo immer wir uns als Frauen oder Männer den Bedürftigen, oder als Väter oder Mütter unseren Kindern liebevoll, stärkend und tröstend zuwenden, repräsentieren wir diesen Gott, der uns in liebevoller Weise umsorgt.

Dr. Ralf Dziewas
Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie an der Theologischen Hochschule Elstal

2015

Dezember 2015

Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. (Jes 49,13)

Der Prophet ist außer sich vor Freude, denn er sieht, wie Gott in das Elend seines Volkes eingreift. Noch ist es nicht so weit; noch fristet das Volk sein Dasein im Exil in Babylon, aber der Prophet sieht schon das Licht am Horizont: Bald dürfen sie nach Hause gehen, nach Jerusalem, nach 40 Jahren im Exil. Es ging den Israeliten äußerlich nicht schlecht in Babylon. Sie bauten Häuser, legten Gärten an, hatten ihren Alltag, ihr Einkommen.

Aber in ihrer Seele, in ihrem Glauben waren sie verzagt: Sie konnten einfach nicht fassen, dass ihr Gott zulassen konnte, dass Jerusalem erobert und der Tempel zerstört wurde. Waren nicht doch die Götter der Babylonier stärker und größer als der Gott Israels? Die Propheten erklärten diese Katastrophe mit dem schuldhaften Verhalten Israels: Das Ganze sei eine Strafaktion Gottes gewesen; man müsse sich zu seiner Schuld stellen und umkehren.

Nun die Ankündigung: der Gott Israels wendet das Schicksal, er schenkt die Heimat zurück, - und Erleichterung und Trost machen sich breit. So begeistert ist der Prophet, dass er die ganze Schöpfung in seine Freude einbezieht. Wenn Gott kommt, sind nicht nur einige Menschen betroffen, sondern alle! Nichts und niemand bleibt von der kommenden Gott der Befreiung unberührt.

Genau diese Bewegung steckt auch in der Geschichte, auf der wir in den Wochen vor Weihnachten zuleben: In Jesus kommt Gott in die Welt, als Bruder der Menschen, um Heilung und Erlösung in unser geschundenes Leben zu bringen. Noch sind wir nicht geheilt, noch sind wir oft böse, noch ist nicht alles gut! Aber Gott sieht uns mit anderen Augen an: Er sieht uns durch Jesus hindurch, der für unsere Schuld und in unser Leid hinein sterben wird.

Wenn wir das Evangelium hören und an Jesus festhalten, dann sehen wir auch den Lichtstreifen am Horizont. Die Sonne wird aufgehen, auch wenn es noch Nacht ist. Darum können wir jetzt schon Lieder der Freude singen, zuerst leise vielleicht und dann immer lauter werdend. Und in unserer Freude über den sich erbarmenden Gott werden wir die Menschen um uns herum mithineinnehmen, hoffentlich!

Michael Kißkalt
Rektor der Theologischen Hochschule Elstal

November 2015

Erbarmt euch derer, die zweifeln. (Jud 22)

Hätten Sie das gedacht? Auch in neutestamentlichen Gemeinden gab es Leute, die Zweifel hatten! Freilich: Der methodische Zweifel, der für unser neuzeitliches Denken so wichtig geworden ist, war damals noch unbekannt – auch außerhalb der Christenheit. Dass man sich mit überlieferten Gewissheiten nicht einfach zufrieden geben soll, sondern kritisch fragen, ob sie zureichend begründet sind, war die Kernforderung erst der Aufklärung, ohne die moderne Natur- und Geisteswissenschaften, auch die Theologie, nicht mehr denkbar sind. Die kritische Nachfrage hält unser Denken und Handeln in Bewegung.

Der Zweifel, von dem im Neuen Testament gesprochen wird, ist anderer Art, aber uns ebenfalls gut bekannt. Dieser Zweifel tritt auf, wo ein Mensch zwischen Für und Wider hin- und hergerissen ist, wo er nicht weiß, wem er Recht geben und wofür er sich entscheiden soll. Das griechische Wort, das in unserem Monatsspruch für „zweifeln“ steht, hat die Grundbedeutung „mit sich im Streit liegen“. Ein solcher Zweifler ist innerlich zerrissen.

Die Situation, in die der Judasbrief hineinspricht, ist ein schwerer innergemeindlicher und übergemeindlicher Konflikt, in dem der christliche Glaube insgesamt auf dem Spiel steht. Judas hat Christen vor Augen, die für ihn gefährliche Irrlehrer sind, aber die doch sehr viele Gläubige auf ihre Seite gezogen haben. Es gab also Anhänger der neuen Richtung, es gab standhafte Vertreter der Apostelüberlieferung, und es gab die Zweifler, die sich nicht entscheiden konnten.

Wie sollen die entschiedenen Christen mit diesen Unentschiedenen umgehen? Judas sagt: Erbarmt euch ihrer! Nehmt euch ihrer helfend an! Macht ihnen also keine Vorwürfe und gebt sie nicht vorschnell verloren! Helft ihnen vielmehr zu einer klaren und richtigen Entscheidung. Und was kann in dieser Situation helfen? Natürlich nur überzeugende Argumente! „Erbarmt euch derer, die zweifeln“, bedeutet also: Sucht das Gespräch, geht auf kritische Fragen geduldig ein und gewinnt die Unsicheren mit der Kraft des besseren Arguments. Das ist intellektuelle Barmherzigkeit, die auch heute gebraucht wird.

Uwe Swarat
Professor für Systematische Theologie

Oktober 2015

Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? (Hiob 2,10)

Hiob gibt ein jämmerliches Bild ab. Er hat seinen Besitz und seine Kinder verloren und nicht genug, er hat „bösen Ausschlag“ (1,7). Vom Scheitel bis zur Sohle ist Hiob krank und unansehnlich. Ein gutes Leben ist nicht erkennbar. Das Gute, das er empfangen hat – kinderreich und „reicher als alle, die im Osten wohnen“ (1,3) und dazu gläubig zu sein – es rückt in den Rückblick. Hiob – der Gerechte leidet. Hiob, der unschuldig ist, erlebt Unheil. Der leidende Hiob ist eine Provokation für jede Lehre von Glück und Leiden.

Wer über Hiobsbotschaften im Leben ins Nachdenken über Gott kommt, steht vor einer Alternative: Kann ich auch die dunklen, unverständlichen Seiten meines Lebens mit Gott in Verbindung bringen? Ist es tröstlicher, wenn Gut und Böse miteinander kämpfen, man in das „Räderwerk des Bösen“ (Rüdiger Lux) gerät oder letztlich alles aus Gottes gütiger Hand anzunehmen ist?

Hiob denkt über solche Fragen nicht am Schreibtisch nach als philosophisches Problem, sondern aus persönlicher Betroffenheit heraus. Der Leidende wagt es, sich einen Reim darauf zu machen, wie er sein Leid und sein Vertrauen zu Gott zusammen halten kann.

Die Frau Hiobs spielt eine eher unrühmliche Rolle. Sie selbst hat auch ihre Kinder verloren und ist betroffen von den Verlusterfahrungen Hiobs. Aber sie hat für Hiob nur einen negativen Rat: Gott abzusagen und zu sterben. Was bringt es ihm noch an seinem Gottvertrauen festzuhalten – so wie er in der Asche sitzt? Hiob widerspricht energisch mit den berühmten Sätzen von Hiob 2 Vers 10. „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?“

Wenn sich ein Leidender so äußert, dann ist dies mit Respekt zu hören! Ein Lebender, der Böses im Leben aus der Hand Gottes annehmen kann, ist ein Zeugnis. Ein Zeugnis für großes Gottvertrauen in dunklen Tälern begleitet zu sein. Ein Zeugnis dafür, eine Adresse für Klage und Anklage zu haben, nämlich Gott selbst. Ein Zeugnis dafür, dass es immer das Beste ist, in Gottes Hand zu fallen, als in irgendeine andere.
Hiob steht mit diesem Glauben nicht alleine da. Die Glaubensüberzeugungen des weisen Predigers führen zu einer ähnlichen Botschaft: „Am guten Tag sei guter Dinge, und am bösen Tag bedenke: Diesen hat Gott geschaffen wie jenen, damit der Mensch nicht wissen soll, was künftig ist.“ (Prediger 7,4).

Den Umgang mit Hiobsbotschaften gibt es nicht auf Rezept. Es gibt vielfältige biblische Wege. Der Weg von Hiob 2,10 bekennt sich zum Glauben an Gott in allen Lebenslagen.

Michael Rohde
seit Oktober 2015 Pastor der EFG Hannover Walderseestraße

September 2015

Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. (Mt 18,3)

Wie ein Kind werden – damit verbinden sich in der Auslegungsgeschichte zu diesem Vers unterschiedliche Vorstellungen. Christinnen und Christen sollen sich kindliche Eigenschaften wie Sanftmut, Bescheidenheit, Einfältigkeit zu Eigen machen. Auch Enthaltsamkeit und bescheidenes Leben wurden damit assoziiert, oder die Hörigkeit gegenüber Eltern und Lehrern, die Lernbereitschaft, das grenzenlose Vertrauen zu den Eltern, die kindliche Naivität. Der Exeget Ulrich Luz hat dazu treffend formuliert, dass diese Vorstellung vielmehr spiegeln, wie ein Kind sein sollte und nicht, wie es tatsächlich ist. Und wer eigene Kinder hat oder intensiver mit Kindern zu tun hat, der kann dem sicherlich zustimmen: bohrende Fragen und Wissen wollen statt kindlicher Naivität, – eine Trotzphase nach der nächsten statt kindlicher Hörigkeit gegenüber den Eltern, – aktives Einfordern von Zeit, Zuneigung, Anerkennung, Süßigkeiten, – neuen Spielsachen statt Bescheidenheit und Einfältigkeit, – häufige Geschwisterstreitigkeiten statt Sanftmut.

Für das Verständnis dieses Verses hilfreich ist die Frage, wie Kinder im antiken Judentum zur Zeit Jesu gesehen wurden. Einerseits wurden sie als Gottesgeschenk betrachtet. An ihnen zeigt sich der Segen Gottes für die Eltern. Andererseits aber galten sie nur als unfertige Menschen. Sie waren keine voll einsetzbaren Arbeitskräfte und existentiell von der Versorgung durch die Familie abhängig. Ebenso waren sie noch unmündig in Fragen des Glaubens und des ethischen Handelns. Kindheit wurde als defizitäre Lebensphase angesehen, die möglichst bald zu überwinden sei. Die Lebenssituation von Kindern lässt sich daher sehr gut mit dem Begriff der Niedrigkeit beschreiben. Kinder waren damit nicht nur äußerlich sondern auch innerlich klein und machtlos und damit auch unbedeutend. Jesus hingegen stellt die Kinder als positives Beispiel in den Mittelpunkt und spricht ihnen damit gleichzeitig besondere Bedeutung und Relevanz zu.

Ihre Lebenssituation steht Jesus vor Augen, wenn er seinen Jüngern erklärt, dass die „Eintrittskarte“ für das Himmelreich das „werden wie die Kinder“ ist. Damit fordert er ein Leben wider die Maßstäbe der damaligen Gesellschaft. Er erwartet von seinen Jüngern, dass sie klein, machtlos, ja „unbedeutend“ werden sollen, so wie eben ein Kind damals wahrgenommen wurde. Wie sich das im Leben konkretisieren soll, wird in den nachfolgenden Textabschnitten erkennbar, beispielsweise durch Vergebungsbereitschaft statt Beharrung auf dem eigenen Recht (Mt 18,15-35), durch Verzicht auf eigenen Wohlstand zugunsten der Bedürftigen (Mt 19,16ff) oder durch Verzicht auf Hierarchien und damit verbundene Ehre (Mt 20,26-28; 23,11).

Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu sollen damit bewusst nach Maßstäben leben, die im Widerspruch zur damaligen Gesellschaftsordnung standen. Es sind Maßstäbe, die nicht auf das irdische Wohl und den Erfolg des Einzelnen zielen, sondern auf das Wohl des Nächsten und damit zugleich auf eine positive, wertschätzende, lebensförderliche Beziehung zwischen Menschen. Solch ein alternatives Lebenskonzept zu den gesellschaftlichen Maßstäben war nicht nur zur Zeit Jesu revolutionär. Das ist es auch heute in einer westlichen Gesellschaft, in der individueller Wohlstand und Erfolg Leitmaßstäbe sind. Zu einem derart revolutionären Lebensstil sind wir als Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu aufgefordert. Solch ein Leben steht unter der Verheißung der Teilhabe am Himmelreich. Und diese Verheißung gilt nicht erst für das Ende der Zeit. Denn dort, wo Menschen in Demut leben, sich selbst nicht so wichtig nehmen, den eigenen Wohlstand teilen, vergeben statt auf Recht zu beharren, andere Menschen höher achten als sich selbst, dort bricht das Himmelreich durch in unsere Welt. Und daher ist solch ein Leben in Niedrigkeit alles andere als unbedeutend.

Christian Wehde
Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Neues Testament an der Theologischen Hochschule Elstal

August 2015

Jesus Christus spricht: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben (Mt 10,16)

In Deutschland kommen nur wenige Schlangenarten vor, die alle unter strengem Naturschutz stehen. Schlangen zu schädigen steht hierzulande unter Strafe. Bei Begegnungen mit den seltenen Tieren macht man möglichst einen großen Bogen, damit sie sich wieder verkriechen können. Zur Zeit Jesu war das noch anders. Schlangen wurden nicht als wertvolle Naturbewohner, sondern einfach nur als Bedrohung wahrgenommen. Wer eine Schlange sah, schlug sie tot, wenn er irgend konnte. Eine Schlange zu erschlagen, ist allerdings gar nicht so einfach, da die Tiere auf Gefahr blitzschnell reagieren und mit großer Beweglichkeit entwischen. Wegen dieser Eigenschaft galten sie seit Urzeiten als besonders kluge Tiere, ja als „listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der Herr gemacht hatte“ (1. Mose 3,1). Die Jünger benötigen für die gefährliche Aufgabe, zu der Jesus sie aussendet, die Wachsamkeit und Wendigkeit der Schlangen. Sie werden Menschen begegnen, die auf die Verkündigung des Reiches Gottes mit Gewalt reagieren werden, so wie man zum Schlag ausholt, wenn man eine Schlange sieht.

Als moderner Stadtbewohner habe ich keine günstige Meinung von Tauben, aber auch hier lagen die Verhältnisse in der Welt der Bibel anders. Tauben waren das beliebteste Zuchtgeflügel. Im Gegensatz zu den Schlangen galten Tauben als besonders dumme und harmlose Tiere. Die Einfalt der Tauben ist laut dem „Physiologus“, einer frühchristlichen Schrift über die in der Bibel erwähnten Tiere, daran zu erkennen, dass man ihnen immer wieder die frischgelegten Eier wegnehmen kann und sie sich jedesmal ganz unverdrossen daran machen, ein neues Nest zu bauen und neue Eier zu legen. Weil Tauben so zärtlich gurren, galten sie als besonders sanft. Das verband man mit der Beobachtung, dass Tauben keine Gallenblase haben. In der Antike nahm man nämlich an, dass die übermäßige Beimischung von Gallenflüssigkeit im Körper zu Jähzorn führe. Die Charakterisierung, die Jesus bei den Tauben im Blick hat, lautet im griechischen Text „unvermischt“. Im Deutschen könnte man das Wort präzise als „lauter“ übersetzen.

Wenn diese historisch-zoologischen Detailbeobachtungen in die richtige Richtung gehen, sagt Jesus also nicht etwa, seine Jünger dürfen hinterlistig wie die Schlangen und dumm wie die Tauben sein, sondern genau das Gegenteil. Die Verkündiger des Evangeliums müssen Geschicklichkeit und Geistesgegenwart an den Tag legen, sollen dabei aber keine faulen Kompromisse schließen, ihre Botschaft nicht kompromittieren. Was Jesus seinen Jüngern angesichts von unmittelbar drohender Gefahr und Verfolgung gesagt hat, als er sie wie die „Lämmer mitten unter die Wölfe“ sandte (noch mehr Tiervergleiche!), soll auch von solchen Gemeinden der Jesusjünger gehört werden, die in Ruhe und Sicherheit leben dürfen. Im Vers, der dem Monatsspruch unmittelbar folgt, warnt Jesus: „Hütet euch vor den Menschen.“ Vor wem eigentlich? Vielleicht vor uns selbst, vor unserer eigenen Neigung zur Trägheit, wo Wachheit und Wendigkeit am Platz sind, und zum faulen Kompromiß, wo Eindeutigkeit gefragt ist.

Prof. Dr. Martin Rothkegel
Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Hochschule Elstal

Juli 2015

Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere stammt vom Bösen. (Mt 5,37)

„Alter, isch schwör dir, isch mach dich …“, so hört man es allenthalben im Kiezdeutsch, besonders in Berlin. Und nicht nur von Jugendlichen mit türkischem oder arabischen Hintergrund, zunehmend auch von deutschen. Dem „Schwur“ folgen eine Drohung oder Beleidigung, oft aber nur eine belanglose Aussage. Der so „Schwörende“ will dem, was dann folgt, Nachdruck verleihen oder mehr noch die eigene Wichtigkeit herausstellen.

Derart inflationäres Schwören gab es auch zur Zeit Jesu. Einer schwört, dass er isst, schläft oder nicht schläft, ein Steinchen ins Wasser wirft und allerlei anderes Banales. Weit weg von der ursprünglichen Bedeutung des Schwurs, gedankenlos, und doch von Übel. Nicht weniger böse war das berechnende Vorgehen der Frommen, welche Art von Eid unverbindlich sei: „beim Tempel oder beim Altar zu schwören“, und welche denn verbindlich: „beim Gold des Tempels oder beim Opfer, das auf dem Altar liegt, zu schwören“. (Mt 23,16ff)

Dem Schwören jeder Art gebietet Jesus Einhalt. Nicht nur den Meineid verbietet er in diesem Abschnitt der Bergpredigt „Über das Schwören“. Jede Art ist zu verurteilen, ob banale oder ernste Bekräftigungsformel oder mit List erdachtes Schlupfloch. Die Alte Kirche wusste sich dieser Radikalität verpflichtet. Mit der Anerkennung der Christen durch Kaiser Konstantin wurden heidnische Eidformeln abgelehnt, aber eine Fülle erlaubter Formen „christlichen“ Eides gestattet. Die großkirchliche Tradition setzte sich über Jesu Verbot hinweg, täuferische Gruppen mit dem Eidverbot blieben Exoten.

Jesus fasst seine Ausführungen über das Schwören mit der Forderung nach klarer Ansage und verbindlicher Aussage zusammen: Ein JA sei ein JA, ein NEIN ein NEIN! Nichts dazwischen und nichts darüber hinaus! Jeder Schwur entwertet das einfache JA. Auf dieses ist dann kein Verlass mehr. Die Vielzahl der oft kreativen Eidesformeln (vgl. Mt 5,34-36; 23,16ff) führt zur unseligen gegenseitigen Überbietung, bei dem eins auf der Strecke bleibt: Die Wahrheit. Wahrheit lässt sich nicht steigern. „Wahrer“ als die andern oder gar „ganz wahr“ sein zu wollen geht nicht.

Leute mit einem einfachen Ja oder Nein sind Jesus am liebsten. Menschen, die sich nicht winden und drehen und herausreden, die einfach eindeutig sind, und klar. So klar wie der Vater im Himmel ist, so klar sollen auch die sein, die ihm folgen. Gott sagt JA, zum Menschen und zu seiner Schöpfung. Sein JA lässt sich an Klarheit nicht überbieten. Unter dem geht es aber auch nicht. Jesus will Menschen, die verlässlich sind, so wie Gott der Inbegriff von Treue und Verlässlichkeit ist. Wie können Christen von diesem Gott reden, wenn sie selber unklar bleiben?

Euer Ja sein ein Ja, ob Ihr es zu Gott als Antwort auf sein JA sprecht oder in den vielfältigen menschlichen Beziehungen. Mitunter braucht Klarheit Mut. Die Urlaubszeit bietet mehr als der Alltag Zeiten zum Innehalten und Erspüren, was das eigene klare Ja oder Nein erschwert. Auch zum Einüben dieser vergessenen Kunst der Eindeutigkeit und zur Freude über ein neues, befreites Miteinander, das daraus folgt. „Ehrlich, isch schwör!“

Olaf Kormannshaus
Olaf Kormannshaus lehrte bis Juni 2015 Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Juni 2015

Ich lasse Dich nicht los, wenn Du mich nicht segnest. (Genesis 32,27)

Jakob ist unterwegs, um seinem Bruder Esau nach vielen Jahren wieder zu begegnen. Er fürchtet sich vor dieser Begegnung. Wie wird Esau reagieren? Wird er ihm freundlich entgegen eilen oder trägt er ihm den Betrug um das Erstgeburtsrecht, um das väterliche Erbe, immer noch nach? Jakob ist gut vorbereitet. Er hat seinen Besitz schon aufgeteilt und will Esau großzügig beschenken. Seine Familie schickt er schon einmal vor. Er selber bleibt zurück.

Es wird Nacht. Unvermittelt findet sich Jakob in einem Kampf wieder. Mit wem er hier kämpft bleibt zunächst im Dunkel. Von einem Mann ist die Rede, aber wer ist dieser Mann? Ist es ein Mensch, der ihm hier an diesem Flussufer begegnet? Sind es seine eigenen Ängste, mit denen er ringt, mit denen er sich nun auseinandersetzen muss? Ist es ein Dämon oder ein Engel? Oder am Ende Gott selbst?

Jakob ist ein starker Gegner. Lange kämpft er mit dem Mann - bis der Morgen kommt. Doch das herannahende Tageslicht zwingt den Gegner zu gehen. Auf einmal hat er es eilig, er will fort. Er vermag Jakob nicht zu besiegen und so macht er ihn wenigstens kampfunfähig, verletzt ihn an seiner Hüfte. Aber noch immer ist Jakob stark und ringt mit seinem Gegenüber. „Lass mich los!“ Ein Satz gesprochen mitten im Kampf. Sollte Jakob nicht froh sein, wenn sei Gegner weggeht? Doch er hält ihn fest. Er hält an dem fest, der ihn verletzt hat. Jakob gibt nicht auf, gibt sich nicht geschlagen. Er ist kein Verlieren. Mit Gewinn will er aus diesem Kampf hervorgehen. Einen Segen will er für sich. Die Kraft, die sich jetzt noch gegen ihn wendet, will er zum Guten nutzen.

Der Fremde kann sich nicht einfach aus dem Staub machen, sich nicht davon schleichen. Also bekommt Jakob etwas. Er bekommt einen neuen Namen: Israel. Die Kraft, die sich gegen ihn gewendet hat, wird fortan mit ihm sein. Aus dem Gegner wird der Verbündete. Der Fremde kämpft für ihn, so könnte man den Namen „Israel“ verstehen. Und nun will Jakob doch endlich wissen, mit wem er es zu tun hat: „Sag mir deinen Namen.“ Doch der Fremde nennt seinen Namen nicht, bleibt weiterhin im Verborgenen. Aber er segnet Jakob. Jakob ist nicht der Gewinner und doch zieht er Gewinn aus dieser schwierigen Situation. Und er hat eine Ahnung, mit wem er zu kämpfen hatte, denn jetzt gibt er einen Namen. Er benennt den Ort: Pnuel - Angesicht Gottes. Jakob ist sich sicher: Er hat Gott gesehen und trotzdem überlebt.

Wenn dann der Morgen kommt, ist er stärker geworden, trotz seiner Verletzung. Das Morgenlicht zeigt einen Gesegneten, der darauf vertrauen kann, dass Gott selbst seine Kraft für ihn einsetzt.

Dr. Andrea Klimt
Professorin für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Mai 2015

Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt. (Phil 4,13)

„Alles vermag ich“ – das ist ein stolzer Satz. Zumal wenn er von jemandem stammt, der als Gefangener hinter Gittern sitzt. „Alles vermag ich“ –  das ist aber auch ein zutiefst demütiger Satz. Denn er steht nicht allein. Er wird begründet. Und auf die Begründung kommt es an: „Durch den, der mir Kraft gibt.“ Gemeint ist Jesus Christus. Es ist also kein plumpes Selbstvertrauen, das sich hier ausspricht. Es ist kein Zweckoptimismus nach dem Motto: Irgendwie stehen wir das schon durch. Und zugleich steht dahinter auch kein jämmerliches sich Verkriechen: Der Herr wird’s schon richten. Der apostolische Satz „Alles vermag ich durch ihn, der mir Kraft gibt“, ist ein Satz, der die Freiheit des Glaubens atmet. Und die sagt weder, dass ich alles allein kann. Noch sagt sie, dass ich gar nichts kann. Es ist bemerkenswert, dass im Neuen Testament durchaus von menschlicher Stärke, ja sogar Macht die Rede ist. Und davon, dass der glaubende Mensch davon Gebrauch machen darf und soll. Freilich ist dabei völlig klar, dass es sich hier um eine verliehene Macht und Stärke handelt. Um Recht und Vollmacht also, die man sich nicht selbst geben kann.

Wozu macht uns die verliehene Kraft stark? Dazu, etwas zu wagen. Ja, Christen dürfen etwas wagen und um Gottes willen etwas Tapferes tun. Aber auch: Etwas von anderen zu empfangen. Denn um etwas anzunehmen – zum Beispiel Hilfe von außen, braucht man manchmal mehr Kraft als zum Geben. Und natürlich auch: Etwas auszuhalten, wenn es ertragen werden muss. Um schwierige Mitmenschen zu ertragen, braucht man manchmal unerhört viel Kraft.  

Was ist das für eine Kraft, die uns gegeben wird und durch die wir etwas vermögen? Es ist die Liebe Christi, die er mit uns teilt. Sie ist kein Zaubertrank, sondern eine personale, geistliche Macht, die eine neue Gesinnung in uns schafft. Eine Gesinnung aus der Kraft der Liebe Gottes, die gerade darin allmächtig ist, dass sie alles erträgt und nicht das Ihre sucht, sondern das des Andern. Und die als Gottes Kraft letztlich sogar stärker ist als der Tod.

Dr. Volker Spangenberg
Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Hochschule Elstal

Apri 2015

Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen! Mt 27,54 (L)        

Was für ein kühner Satz – gesprochen von einem Heiden. Mehr noch – gesprochen von einem römischen Soldaten. Dabei galt seine Treue einem anderen Gottessohn – dem römischen Kaiser. Sein Bekenntnis ist unerwartet – nach menschlichen Erwägungen fast deplatziert. Denn es ist kein Einstimmen in den feierlichen Ruf der Massen „Hosianna Davids Sohn“ als sie Jesu Weg mit Palmenzweigen säumten. Ihre Rufe waren längst in das „Kreuzige ihn!“ umgeschlagen.  Selbst den Jüngern hat das Kreuz den Glauben geraubt. Petrus sagte einmal voller Überzeugung: „Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!“ (Mt 16, 16). Von ihm fehlt auf Golgatha jede Spur. Der Hauptmann fällt sein Urteil im Anblick eines Gesichtes, das unter einer Kruste aus Blut, Schweiß und Schmutz zu einer schmerzerfüllten Grimasse verzerrt ist. Als sich niemand zu entsinnen scheint, dass jener, der dort so armselig stirbt, der Retter, der König, der Messias sein soll, fällt es dem Hauptmann wie Schuppen von den Augen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Was hat diesen Hauptmann so in seinen Grundfesten erschüttert? Auf Golgatha, wo der höchste von Allen erhaben über den Köpfen der Massen armselig stirbt, begreift er das paradoxe und zugleich (er-)lösende Moment des Kreuzes. Auf der Schädelstätte wird Gottes Weg zu den Menschen ein brutales Ende gesetzt. Jesus der Christus wird geschlagen und ausgepeitscht, bespuckt und mit Hass und Häme überschüttet. Er wird in die unendliche Ferne des Todes gestoßen. Und Gott antwortet mit seiner ganzen Herrlichkeit. Dunkelheit umhüllt das Kreuz, ein mächtiges Beben erschüttert die Erde, Felsen werden zerschmettert und Gräber öffnen sich. All diese Erschütterungen kündigen im Alten Testament Gottes mächtiges Kommen zum Gericht an. In der Todesstunde offenbart sich Gott selbst und bekennt sich zu jenem Jesus, der von den Menschen verworfen wurde. So hält Gott Gericht. Er richtet die Ignoranz, den Hass und die Hartherzigkeit der Menschen. Sein Urteil, das über die Menschen hereinbricht, geschieht am Kreuz. Doch es kreuzigt die Menschen nicht. Es stößt sie nicht in die Ferne und verdammt sie nicht zum Tode. Es zerreißt symbolisch den Vorhang im Tempel, der die verlassene Wohnung Gottes unter den Menschen verhüllte. Alles was zwischen Gott und Mensch stand ist hinweggenommen. Auf unsere Ablehnung antwortete Gott mit Annahme, auf unseren Hass mit Vergebung, auf Jesu Tod mit ewigem Leben.

Das ist erschütternd, besonders für alle, die in der Logik von Strafe und Vergeltung gefangen sind – so wie der Hauptmann am Kreuz. Gottes Gericht am Kreuz lässt nicht die Welt vergehen – es verkehrt sie: Wo Gottes Zorn wieder den Menschen lodern müsste, wird seine Liebe zu seinen Geschöpfen neu entzündet. Statt uns den Rücken zu zukehren, blickt Gott uns freundlich an. Das ist die Gerechtigkeit des Kreuzes. Sie bringt die Welt des Hauptmanns ins Wanken, bis sie in sich zusammenbricht. Nicht der Kaiser und das römische Heer mit ihren ruhmvollen Siegen und ihrem Recht haben der Welt den letztendlichen Frieden und Gerechtigkeit gebracht, sondern der armselige Tod von Jesus am Kreuz. Seit jenem Tag hat unsere Welt so viel Unrecht gesehen und unzählige Tage haben die Menschen den Zorn Gottes herbeigeschrien. Doch die Antwort ist bis heut gleich geblieben: Das Kreuz und seine Versöhnung. Sie wollen auch uns ins Wanken bringen, bis wir voller Ehrfurcht bekennen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!“

Sebastian Gräbe
Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie am Theologischen Seminar Elstal (FH).

März 2015

„Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ (Röm 8,31)

Wenn ich nur ein Kapitel der Bibel behalten dürfte, ich würde mich vermutlich für das achte Kapitel des Römerbriefes entscheiden. Dieses Kapitel beschreibt wie kein anderes die Heilsgewissheit, die der christliche Glaube schenkt. Es beginnt mit der Aussage: „So gibt es nun keine Verdammnis für die, die in Christus Jesus sind.“ (Röm 8,1) Und es endet mit dem großartigen Bekenntnis: „Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (Röm 8,38f).

Zwischen diesen Eckversen schreibt Paulus von der Sendung des Sohnes Gottes in die Welt, beschreibt er die Überwindung der Sünde durch die befreiende Wirkung des Heiligen Geistes und verkündigt er die Hoffnung auf die Auferstehung zu ewigem Leben und die Erlösung der gesamten Schöpfung. Und nach all diesen wichtigen Glaubens- und Hoffnungsworten steht als Fazit der Monatsspruch für diesen März: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ (Röm 8,31)

Diese Frage ist im Kontext des achten Kapitels des Römerbriefes eine rein rhetorische Frage, denn die Antwort ist klar: Niemand! Wenn Gottes Liebe zu uns so groß ist, dass er uns seinen Sohn schenkt, um uns von Sünde, Schuld und Tod zu befreien, wer sollte dieses Heilswerk Gottes ungeschehen machen können? Die Antwort ist: Niemand! Wenn Gott uns freispricht, wer könnte uns verurteilen? Niemand! Wenn der, der für uns gestorben ist und unsere Sündenschuld getilgt hat, für uns als Anwalt eintritt, wer könnte uns dann noch erfolgreich verklagen? Niemand! Und wenn der Satan selbst als Ankläger aufträte, er hätte keine Chance gegen die vergebende Liebe Christi. Das ist die zentrale Gewissheit unseres christlichen Glaubens: Selbst wenn unser Gewissen uns verurteilt oder Menschen über uns den Stab brechen, wir dürfen dennoch gewiss sein, dass Gottes Liebe zu uns größer und mächtiger ist als alle Sünde, alle Schuld, alles Leid und alle negativen Mächte und Gewalten die gegen uns antreten könnten. Deshalb liebe ich dieses achte Kapitel des Römerbriefes so. Es enthält Evangelium pur.

Dr. Ralf Dziewas
Professor für Diakoniewissenschaft und Sozialtheologie am Theologischen Seminar Elstal (Fachhochschule)