Mit János Papp (r.), dem Präsidenten der ungarischen Baptisten

Foto: Antal Saci

Kleiner Gemeindebund, großer gesellschaftlicher Einfluss

Besuch bei den ungarischen Baptisten – eine Reportage

Mitte November besuchte eine Delegation des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (BEFG) den ungarischen Baptistenbund. Eine Reportage von Dr. Michael Gruber.

Montagvormittag, Bibelkundeunterricht am Baptistischen Gymnasium im Budapester Stadtteil Országút. Heute geht es um Dankbarkeit. Schulpastor Krisztián Tóth fragt die vier Schülerinnen und zehn Schüler der neunten Klasse, wofür sie dankbar sind. Mit seiner ruhigen und zugewandten Art geht der Mittdreißiger auf alle ein, sorgt dafür, dass neben den besonders Mitteilsamen auch alle ruhigen Schüler zu Wort kommen. So wie das Mädchen in der ersten Reihe, das eine starke geistige Behinderung hat. Fast alle hier haben eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung. Der Pastor schreibt ihre Antworten auf das Smartboard, die elektronische Tafel, erarbeitet mit den Jugendlichen Kategorien von Dingen, für die man dankbar sein kann, bringt dies in Bezug zu Glaubensfragen. Dann singt die Klasse gemeinsam christliche Lieder, begleitet vom Schulpastor auf der Gitarre.

Rektorin Gabriella Kékesné Czinder hat den Gästen aus Deutschland zuvor ein Video über die Schularbeit gezeigt. In einer Szene sieht man Schüler im Anzug und Schülerinnen im Abendkleid beim gemeinsamen Tanz. Eines der Mädchen sitzt im Rollstuhl. Der Ball, so berichtet Kékesné Czinder, ist eine alte ungarische Tradition. Doch nur an ihrer Schule können auch gehbehinderte Jugendliche daran teilnehmen. Insgesamt hat die Schule 220 Schüler. 60 von ihnen sind gehbehindert, 40 Autisten, 50 haben andere Behinderungen. Das inklusive Konzept ist für Ungarn außergewöhnlich, wie uns die Rektorin erläutert. Weil es im Land nicht ausreichend Schulplätze für Kinder mit Behinderungen gibt, müssen manche von ihnen zu Hause bleiben – trotz Schulpflicht. Die Schule in Országút möchte ihren Absolventinnen und Absolventen eine Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ermöglichen.

Im Büro von Rektorin Kékesné Czinder (r.), mit Dr. Ákos Bukovszky (2.v.r.)

Schulpastor Krisztián Tóth

Im baptistischen Gymnasium

Es gibt in Ungarn 50 baptistische Schulen mit etwa 17.000 Schülern. Rund zehn davon wurden von Baptistengemeinden mit eigenen Mitteln gegründet, die anderen hat der Baptistenbund vom Staat übernommen, der für die Finanzierung sorgt. Die meisten Schulen konzentrieren sich auf bestimmte Talente der Schülerinnen und Schüler und sind auch bei nicht-baptistischen Eltern beliebt, beispielsweise drei Sportgymnasien oder viele Berufsschulen. Es gibt eigene baptistische Schulbücher, die auch in anderen kirchlichen Schulen gerne genutzt werden.

Der Vormittag hat zwei Dinge eindrücklich gezeigt, die für die Arbeit der ungarischen Baptisten typisch sind. Der kleine Bund wirkt an vielen Stellen in die Gesellschaft hinein. Und er hat dabei sein „wichtigstes Ziel, Mission, stets im Blick“, wie Generalsekretär Kornél Mészáros uns am Nachmittag berichtet.

Wie missionarisch und diakonisch der Baptistenbund und seine Gemeinden sind, erleben wir bereits bei unseren Gottesdienstbesuchen tags zuvor. Prof. Michael Kißkalt, der Rektor der Theologischen Hochschule Elstal, predigt an diesem Sonntag in einer Gehörlosengemeinde am Stadtrand von Budapest. Seit zehn Jahren betreibt der Bund seine „Spezialmission“ für Gehörlose, bietet für sie Gottesdienste, Freizeiten und Jugendarbeit an. Mit dem ungarischen Bibelinstitut arbeiten die Baptisten an einer Bibelübersetzung in Gebärdensprache, für Blinde entwickeln sie christliches Audio-Material.

Prof. Michael Kißkalt mit Andrea Bokros, Leiterin der „Spezialmission“

Ausschnitt aus dem Bericht über die Arbeit des BEFG

Predigt von Frank Fornaçon in Vecsés

BEFG-Präsidiumsmitglied Frank Fornaçon und ich sind zu Gast in der noch recht jungen Gemeinde in Vecsés, die sich im örtlichen Kulturzentrum trifft. In dem Raum im ersten Stock, der mit zwei verspiegelten Wänden zunächst viel größer wirkt als er ist, spielt eine Band mit Gitarre, Keyboard und Cajón auf Ungarisch mit einem treibenden Beat bekannte Songs à la Hillsong. Eine Frau erzählt im Zeugnisteil, wie im Nähkurs Frauen zum Glauben gefunden haben und wegen der guten Gespräche immer wieder kommen, obwohl sie eigentlich viel besser nähen können als die Gemeindefrauen, die den Kurs anbieten. Ein Student berichtet von seiner Arbeit unter Kommilitonen. Und Pastor Lajos Téglási bittet um Gebet für seine Missionsreise nach Pakistan. Wir erfahren auch, dass die Gemeinde Spenden sammelt, um einen ehemaligen Nachtclub als Gemeindehaus zu kaufen. Und Gemeindeleitungsmitglied Ádám Hegedűs zeigt uns Bilder von einem Freizeitangebot, durch das Kinder biblische Geschichten wie die von Daniel in der Löwengrube mit allen Sinnen und viel Spaß erfahren können – missionarische Erlebnispädagogik.

Ehemaliger Nachtclub, den die Gemeinde Vecsés kaufen möchte

Festgottesdienst in der Ersten Baptistengemeinde zu Budapest

Christoph Stiba mit Ákos Bukovszky

Foto: Dorothee Oesemann

BEFG-Generalsekretär Christoph Stiba und Präsidiumsmitglied Dorothee Oesemann besuchen einen Festgottesdienst in der Ersten Baptistengemeinde zu Budapest, der von einem professionellen Orchester gestaltet wird. Die Musiker dürfen in den Gemeinderäumen kostenlos proben, müssen dafür aber einmal im Jahr im Gottesdienst spielen, wo sie – auch hier der missionarische Impuls – mit dem Glauben in Berührung kommen.

Die schiere Fülle baptistischer Angebote beeindruckt uns auch am Montagnachmittag. Zusammen mit Dr. Ákos Bukovszky, dem Leiter für auswärtige Angelegenheiten des Baptistenbundes, der die ganze Zeit dabei ist und alle Gespräche übersetzt, fahren wir von der integrativen Schule aus in den schicken VI. Bezirk. Hier, nah am Budapester Zentrum und um die Ecke vom imposanten Hősök tere, dem Heldenplatz, reihen sich größtenteils sanierte Gründerzeitbauten aneinander. Zwischen Wohngebäuden und Botschaften: die Theologische Akademie der Baptisten. Studiendirektor Dr. Gedeon Urbán erzählt uns, dass von den 500 Studenten und Studentinnen gerade mal 25 Männer in der Pastorenausbildung für den Bund sind. Andere Theologiestudenten wollen beispielsweise Pfarrer in der Lutherischen Kirche werden, auch katholische Studenten sind dabei. Priester freilich können sie mit einem Abschluss hier nicht werden. Doch insgesamt sind in der Studierendenschaft zehn Konfessionen vertreten. Die Akademie bildet auch Gemeindekantoren sowie Seelsorger für den sozialen Bereich aus.

Mit Dr. Gedeon Urbán (2.v.l.) in der Baptistischen Theologischen Akademie

Foto: Csaba Huszta

Prof. Michael Kißkalt und Dr. Gedeon Urbán

In der Bibliothek der Theologischen Akademie

Foto: Csaba Huszta

Danach treffen wir direkt nebenan in der Zentrale des Bundes die Leitung der ungarischen Baptisten. Im hellen Konferenzraum im Obergeschoss steht ein riesiger Besprechungstisch aus dunklem Holz, an allen Wänden hängen großformatige golden umrahmte Ölgemälde ehemaliger Präsidenten. Darunter in Schaukästen baptistische Devotionalien wie Schwarzweiß-Fotografien früherer Bundesleitungen oder die Schreibmaschine des früheren Mönchs und 1922 zum baptistischen Glauben konvertierten Schriftstellers und Dichters Dr. Imri Somogyi. Im Gespräch erfahren wir mehr über die Arbeit. Der Bund möchte 100 Gemeinden in 20 Jahren gründen. Baptisten geben auch Religionsunterricht an 300 nicht-baptistischen Schulen. Es gibt 100 soziale Einrichtungen, etwa in der Kinderpflege oder der Behandlung Suchtkranker. Und der Bund tut viel, um die Gruppe der Roma mit dem Evangelium zu erreichen.

Wie kann der kleine Bund mit seinen 12.000 Mitgliedern all dies stemmen? Präsident János Papp berichtet uns zunächst über eine Besonderheit in der ungarischen Steuergesetzgebung. Wer steuerpflichtig ist, kann 1 Prozent an eine Kirche zahlen und darf frei entscheiden, an welche. 35.000 Menschen und somit weit mehr als die steuerpflichtigen Mitglieder geben ihr Prozent an die Baptisten! Dafür wirbt der Bund auch mit einer Kampagne, die er zudem als „Evangelisationsmöglichkeit“ versteht. Darüber hinaus gibt der Staat viele seiner Aufgaben an verschiedene Kirchen ab und bezahlt diese dafür. Nur dadurch ist die umfassende Schul- und Hochschularbeit der Baptisten möglich. Und auch sonst zeigt sich der Staat großzügig, um die Arbeit der Kirchen zu ermöglichen. So hat der Baptistenbund kürzlich ein mehrstöckiges Gebäude gegenüber seiner Zentrale geschenkt bekommen. Dieses ist zwar renovierungsbedürftig, aber die Hälfte der Kosten für die Sanierung übernimmt: der Staat.

Mit István Durkó (r.), Missionsdirektor des ungarischen Bundes

Foto: Antal Saci

Gebäude, das der Staat den Baptisten überlassen hat

Ungarische und deutsche Delegation nach Gespräch in der Zentrale

Foto: Antal Saci

Das mehrstündige Gespräch mit der Leitung und unsere Treffen geben uns tiefe Einblicke in die Arbeit. Dass der ungarische Bund vom Staat profitiert, scheint mit einer positiven Haltung der Baptisten der Regierung gegenüber einherzugehen. Das wirkt auf uns, die deutsche Delegation, angesichts der offen fremdenfeindlichen Haltung der Orbán-Regierung erst einmal suspekt. Und in unseren Gesprächen wird auch deutlich, dass wir gerade beim Thema Flüchtlinge an vielen Stellen unterschiedliche Ansichten haben. Und doch tragen die Gespräche zu einem gegenseitigen Verständnis bei. Wir erfahren, dass die ungarische Geschichte im Vergleich zur deutschen zu einer anderen Prägung geführt hat. Während Migration zur deutschen Nachkriegsgeschichte dazugehört, gab es in Ungarn keine ähnlichen Entwicklungen. Stattdessen spielen die Eroberungen durch das Osmanische Reich Mitte des 16. Jahrhunderts und die dann 145 Jahre andauernde türkische Besetzung im kollektiven Geschichtsbewusstsein der Ungarn anscheinend noch eine große Rolle. In jedem Fall weiten die Gespräche den Blick, helfen, die eigene Position nicht absolut zu setzen. Während sich beispielsweise viele deutsche Baptistengemeinden stark für Geflüchtete einsetzen, sind ungarische Baptisten für die Minderheit der Roma aktiv. Und immer wieder stoßen wir in diesen Tagen auch auf offene Ohren, wenn wir von der Gemeindearbeit mit Migranten berichten.

Und so fasst der ungarische Baptistenpräsident János Papp es am Ende so zusammen: „Etliche Fragen verstehen wir natürlich anders, aber wir treffen uns in Brot und Kelch. Und ist es uns ein Anliegen, die Zusammenarbeit mit euch Deutschen enger zu gestalten.“ Gemeinsam etwas zu bewirken, das sei das Ziel, wie auch Christoph Stiba unterstreicht, nachdem er ein Abendmahlsgeschirr als Gastgeschenk überreicht hat: „Wir brauchen den Dialog zwischen Ost und West, zwischen verschiedenen Einstellungen, damit das Evangelium vorangebracht wird.“

Ein Artikel von Dr. Michael Gruber