Foto: Luisa Bodem

Wie eine Surferin von Gott getragen

Was ist typisch für den Glauben baptistischer Erwachsener?

Prof. Dr. Andrea Klimt hat Baptistinnen und Baptisten aus aller Welt über ihre Gottesvorstellungen befragt. In ihrem Beitrag zur zweiten Säule des Jahresthemas („Die eigene Spiritualität wertschätzen“) beschreibt sie, was deren Antworten über eine typische baptistische Frömmigkeit aussagen.

Thereza ist unter schwierigen Umständen aus Rumänien nach Österreich geflohen. Wenn sie auf ihr Leben zurückblickt, ist sie dankbar. Dankbar, dass die Flucht gelungen ist. Dankbar, dass sie in der Lage war, die deutsche Sprache zu erlernen. Sie sieht in ihrer gelungenen Flucht eine Führung Gottes, und das Erlernen dieser schwierigen Sprache nimmt sie als ein Geschenk aus Gottes Hand. Miguel aus Puerto Rico fühlt sich von Gott aufgefangen und trotz eines schweren Fehlers wieder angenommen und geliebt. „Das war Gottes Plan“, sagt Yara aus Afghanistan über ihren Weg nach Österreich. „Wenn wir in Afghanistan geblieben wären, dann würden wir jetzt nicht mehr leben“, ist sie sich sicher. Karin bekommt mit, wie zwei Männer sich an einer U-Bahn-Station streiten. Der eine redet sehr abwertend auf den anderen ein. Karin hat den Impuls, etwas zu tun und mischt sich ein. Der Streit wird beendet. „Gott hat mir den Mut gegeben, dazwischen zu gehen. Ich weiß nicht, ob ich das von mir aus so gemacht hätte“, sagt sie mir in unserem Gespräch. Johannetta ist weit über achtzig Jahre alt und sagt mit Blick auf ihren letzten Lebensabschnitt: „Ich weiß, dass Gott mich erwartet.“ Elena fühlt sich nach ihrer Scheidung von Gott begleitet. Eine dringend benötigte Wohnung, die ihr durch eine Mitarbeiterin der Stadt vermittelt wird, sieht sie als ein Geschenk von Gott. Clara, eine ältere langjährige Baptistin aus den USA sagt, dass sie sich in ihrem Leben durch Gott getragen fühlt, wie eine Surferin auf ihrem Surfbrett. Ana aus Kuba denkt ständig an Gott, weil sie für die Menschen betet, die um sie herum Nöte haben oder in schwierigen Lebenssituationen sind.

Ihre Geschichten haben mir meine baptistischen Gesprächspartnerinnen und -partner während meiner Forschungsarbeiten erzählt. Sie haben mich fasziniert. Ich hatte mir zur Aufgabe gemacht, etwas über „Gottesvorstellungen baptistischer Erwachsener“ zu erfahren. Dazu habe ich mit circa 60 Personen aus unterschiedlichen Kulturen gesprochen. Was haben sie gemeinsam und was davon könnte als eine „typisch baptistische Frömmigkeit“ verstanden werden? Diese Frage habe ich mir unter anderem gestellt.

Baptisten und Baptistinnen deuten die Erfahrungen in ihrem Leben und Alltag als Gotteserfahrung. Allen gemeinsam war, dass bedeutende Lebensereignisse im Rückblick mit Gott in Verbindung gebracht wurden. Sie wurden als Plan oder Führung Gottes gesehen. Gott hat bei der Flucht geholfen, hat versorgt, Mut gegeben, in schwierigen Situationen begleitet und bewahrt.

Gefühle, die Gott gegenüber geäußert werden, sind vor allem Vertrauen und Dankbarkeit. Die Mehrheit der Befragten beschreibt eine Veränderung ihrer Gottesvorstellung im Laufe der Zeit, wobei oft von kritischen Lebensereignissen ein verändernder Impuls ausgehen kann. Oft ist das Vertrauen der Einzelnen gerade durch Krisenzeiten gewachsen, was nicht automatisch bedeutet, dass die Betroffenen in der Krise selbst die Nähe Gottes stark erlebt haben. Oft ist es eher die Rückschau auf eine bewältigte Krise, die das Vertrauen stärkt.

Aber nicht nur besondere Situationen, sondern vor allem der Alltag wird mit Gott in Verbindung gebracht. Um herauszufinden, ob die Befragten bestimmte Rituale oder Gewohnheiten haben, habe ich folgende Frage gestellt: „Gibt es bestimmt Zeiten, Orte oder Situationen, in denen Du öfter an Gott denkst?“ Die Antworten der befragten Baptistinnen und Baptisten aus verschiedenen Kulturen ähneln sich. Die meisten von ihnen beantworten die Frage sinngemäß so: „Ja... (kurzes Nachdenken), aber eigentlich: Nein! Keine bestimmten Orte – ich denke überall an Gott. Nein, eigentlich keine bestimmten Zeiten – ich denke immer an ihn. Nein, eigentlich keine bestimmten Situationen – ich denke überall an ihn.“ Man könnte dies mit „immer und überall“ wiedergeben.

Möglicherweise sind es nicht nur Baptisten, die so antworten. Es ist also möglicherweise keine originär baptistische Antwort, aber es ist möglicherweise eine typische Antwort für Baptistinnen und Baptisten: Gott ist für mich immer und überall präsent, und ich erlebe dies in meinem Alltag und auch in besonders herausfordernden Lebenssituationen. Nach meiner Erfahrung ist es so für Baptisten weltweit: Alles ist mit Gott verbunden. Der Alltag ist vom Gedanken an Gott durchdrungen.

Das Gebetsleben von Baptistinnen und Baptisten erscheint wie ein ständiger Dialog mit Gott. Es ist also weniger rituell auf bestimmt Orte oder Zeiten festgelegt oder an bestimmte Gebetshaltungen und vorformulierte Gebete gebunden. Vieles, was erlebt wird, fließt ins Gespräch mit Gott ein. Baptistinnen und Baptisten sind überzeugte und hoffnungsvolle Beter. Sie sind überzeugt davon, dass es Sinn macht, alles im Gebet zu Gott zu bringen. Sie rechnen mit dem Eingreifen Gottes. Interessanterweise handelt es sich hier weniger um ein „übernatürliches“ Eingreifen Gottes, vielmehr wird damit gerechnet, dass Gott durch Menschen handelt. Die von Gott erfahrene Hilfe auf der Flucht geschieht oft durch Menschen, die helfen und zur Seite stehen. Südafrikanische Baptistinnen und Baptisten erzählten mir, dass es für sie eine Antwort auf ihre Gebete war, wenn plötzlich ein Korb mit Essen vor der Türe stand oder ein Stipendium für das Schulgeld gewährt wurde.

Diese Beobachtung schließt auch die Erfahrung ein, dass Gott durch mich handeln kann und ich daher ebenfalls im Gebet frage: „Was soll ich tun? Wie soll ich mich verhalten?“ Auch diese Perspektive taucht in den Gesprächen auf, wie das Beispiel von Karin zeigt.

Eine wesentliche Rolle für die Frömmigkeit von Baptistinnen und Baptisten ist das Lesen in der Bibel. Das ist für sie eine Möglichkeit, eben diesen „Willen Gottes“ in Erfahrung zu bringen. Dabei werden viele Aspekte der biblischen Botschaft verinnerlicht, so dass das Handeln im Alltag davon bestimmt werden kann.

Im nächsten Beitrag der Artikelserie zum Jahresthema beschreibt Prof. Dr. Andrea Klimt die Bedeutung der Gemeinde für den Glauben von Baptistinnen und Baptisten. Darauf folgt ein Artikel von Alexander Rockstroh über typische Ausdrucksformen der Frömmigkeit in der Brüderbewegung.

Literatur:
Klimt, Andrea – Gottesvorstellungen baptistischer Erwachsener im interkulturellen Vergleich, Göttingen 2017

Ein Artikel von Prof. Dr. Andrea Klimt